Der Predigttext von vergangenen Sonntag hat mich sehr nachdenklich gemacht, und viele Ideen habe ich in meiner Predigt nicht unterbringen können. Darum will ich für Euch hier ein bisschen davon schreiben.
Es ging um die Begegnung des äthiopischen „Kämmerers“ der Königin Kandake mit dem Apostel Philippus (Apostelgeschichte 8). Was Luther etwas verschämt mit „Kämmerer“ übersetzt und in manchen Bibeln auch „Schatzmeister“ heißt, bedeutet eigentlich „Haremswächter“. „Er stand ihrem ganzen Hause vor“ heißt es in der Apostelgeschichte, und das bedeute wohl, dass er der „Chef“, der Sklavinnen, Dienerinnen und Hofdamen der Königin war. Er war also ein Eunuch, und genau das steht auch im griechischen Urtext des Neuen Testaments.
Ein Eunuch zu sein, also künstlich unfruchtbar gemacht zu werden, bedeutete damals zweierlei – erstens standen Eunuchen bestimmte „Berufssparten“ offen, die sonst niemand ausüben durfte – zum Beispiel eben Haremswächter, aber auch bestimmte Posten in der Regierung, in der Priesterschaft und bei den Soldaten waren Eunuchen vorbehalten. Trotzdem standen sie nicht unbedingt hoch in der allgemeinen gesellschaftlichen Achtung, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen. (Das kann man alles bei Wikipädia nachlesen; für mich ist das Online-Lexikon inzwischen ein wichtiges Hilfsmittel bei der Predigtvorbereitung geworden…)
Warum dieser Äthiopier nach Israel kam, warum er den Tempel in Jerusalem besuchen wollte, steht nicht in der Bibel. Vielleicht war er Jude und wollte einmal das Land seiner Väter besuchen; vielleicht hatte er von dem Gott der Juden gehört und war neugierig geworden, keine Ahnung. Als „Verschnittener“, also unfruchtbar gemachter Mann durfte er aber den Tempel nicht betreten. Schon vor dem ersten „Vorhof der Heiden“ wird man ihn aufgehalten haben: „Du darfst hier nicht hinein!“
Diese kleine Erzählung aus der Apostelgeschichte handelt von Grenzen. Der Äthiopier kannte sich mit Grenzen aus. Als oberer Wächter des Harems war es sein Beruf, dafür zu sorgen, dass Grenzen eingehalten werden. Um das Harem zu schützen, musste auf das Genaueste unterschieden werden zwischen denen, die draußen zu bleiben hatten und denen, die Zutritt in die inneren Gemächer hatten. „Du darfst hier nicht hinein!“ – diesen Satz hatte er bestimmt selbst schon unzählige Male gesagt und damit Hoffnungen enttäuscht und in das Leben anderer Menschen eingegriffen.
Nun traf es ihn selbst. Wieder einmal. Trotz seiner hohen Stellung hatte er sicher schon oft erlebt, dass er „anders“ war und bei seinen Mitmenschen auf Vorurteile, Missachtung und Ablehnung gestossen war. Ich weiß nichts über die Sexualität kastrierter Menschen, aber ich vermute, dass auch sie Sehnsucht, Leidenschaft und Begierde kennen, ganz abgesehen von dem Wunsch, selbst auch begehrt, anerkannt und geliebt zu werden. Aber immer stand da vor ihm, dass da vor ihm eben nichts mehr war…
In Jerusalem kaufte der Eunuch sich eine Schriftrolle mit den Worten des Propheten Jesaja. Wenigstens eine Erinnerung an diese scheinbar fruchtlose Reise wollte er mit sich nach Hause nehmen, ein Andenken an die ferne Stadt, das ihn hineinschnuppern ließ in die ihm so fremde Religion und in diesen Glauben an den unsichtbaren Gott, so schrecklich und so faszinierend…
Und dann machte er sich wieder auf den Weg nach Hause, auf einem Reisewagen, der über die staubige, leere Straße durch die Wüste im Süden Israels rumpelte. Dort las er die verwirrenden Worte, die der Prophet Jesaja vor einem halben Jahrtausend aufgeschrieben hatte.
Was ist das für ein Gott, der die Entfernung zu den Menschen, zu seinen Geschöpfen aufhebt und sich ihnen gleich macht, der aber dennoch ihr Leiden nicht verhindert? Was ist das für ein Glaube, der die Nähe Gottes sucht, obwohl er dem Menschen gegenüber anscheinend so feindlich eingestellt ist? Welcher Prophet gibt sich her als Sprachrohr Gottes und schreibt dann „Er ist wie ein Schaf, das geschlachtet wird, und tut dabei seinen Mund nicht auf und stößt keinen Laut der Klage aus…“?
„Verstehst Du denn, was Du da liest?“ Ein Fremder spricht den Äthiopier an, der nach der damaligen Gewohnheit die Worte des Propheten laut für sich vorgelesen hat. „Begreifst Du nur ein einziges Wort davon?“ – „Wie könnte ich!“ antwortet der Reisende, „es erklärt mir ja niemand etwas! Ich weiß nicht einmal, ob der Prophet hier von sich selbst spricht oder ob er jemanden anders meint.“
Da setzt sich der fremde Jude, Philippus heißt er, zu ihm auf den klapperigen Wagen. Keine Spur von Berührungsangst, kein zögernder Blick und auch nicht dieses schlecht verborgene Lächeln sieht der Äthiopier an seinem Gast. Es ist, als ob es hier keine Grenze gibt – ganz selbstverständlich fängt der Fremde an zu reden, von Jesus, von dem manche glauben, er sei der Messias, der König der letzten Zeit. Zuerst haben viele gehofft, in ihm würden sich die alten Prophezeihungen erfüllen, aber dann wurde er hingerichtet und starb am Kreuz. Um der Liebe Gottes Willen hat er das Leid der Menschen und den Tod auf sich genommen. Er war ein Aussenseiter und wurde wie ein Verbrecher getötet. Aber in Jerusalem gab es seit einigen Wochen Leute, die behaupten, er sei von den Toten auferstanden.
Philippus spricht von der Liebe Gottes, die grenzenlos ist, die keinen Unterschied macht zwischen Ausländern und Juden, zwischen Sklaven und Freien, Reichen und Armen, Männern und Frauen, bei dem sicher auch Unfruchtbare und unfruchtbar Gemachte zugelassen sind, denn worauf es ankommt, ist Vertrauen auf die Liebe Gottes. Vertrauen, dass die Freiheit nicht wieder einengt, Liebe, die auch das Fremde nicht hasst; ein Glaube, der nicht den Gott eines einzigen Volkes anbetet, sondern der die Grenzen sprengt und nicht unrein nennt, was Gott geheiligt hat.
Und während sie so reden, entdeckt der Äthiopier eine kleine Oase am Rand des Weges, ein paar Palmen, ein paar ärmliche Hütten, ein paar Esel und Kamele, die um einen kleinen Brunnen herum stehen und gierig trinken.
„Da ist Wasser. Spricht denn irgendetwas dagegen, dass ich mich taufen lasse?“
Philippus versteht die Frage des Äthiopiers. Sie ist wie ein Test: „Meinst Du das ernst, was Du da geredet hast? Gibt es wirklich keine Grenzen bei euch Jüngern des Jesus? Oder wirst Du jetzt die Mauern wieder aufrichten, die ich in Jeruselem um mich spürte?“
Was spricht dagegen, dass ich getauft werde?
Ich muss kurz aus dieser Geschichte heraus springen, denn mir kommen hier zwei aktuelle Streitfragen in den Sinn:
In den letzten Jahren wollten sich in manchen Berliner Gemeinden viele Ausländerinnen und Ausländer taufen lassen. Flüchtlinge aus Afghanistan, aus Syrien, aus Eriträa und anderen afrikanischen Staaten. Während manche Pfarrer sie getauft haben, Menschen, die bisher Moslems waren, wurde in anderen christlichen Gemeinden kritisch gefragt: Was, wenn diese sich nur taufen lassen, um eine größere Chance zu haben, nicht abgeschoben zu werden? Weil sie so hoffen können, nicht zurück zu müssen in ein Land, in dem sie arm sind und hungern müssen, in dem sie der Willkür der Obrigkeit ausgeliefert sind, in dem sie aus politischen Gründen oder auch „einfach“ so verfolgt, gequält und misshandelt werden? Und nun wahrscheinlich auch noch aus religiösen Gründen, weil sie sich öffentlich zum Christentum bekannt haben?
Was, wenn diese nicht wirklich glauben, sondern aus völlig „sachfremden“ Gründen die Taufe begehren? Müsste man diesen Menschen nicht die Taufe verweigern, schon aus Respekt und Achtung dem eigenen Sakrament und Ritus gegenüber?
Man kann doch die Taufe und auch das Abendmahl nicht billig verschleudern und es einfach an jede und jeden weitergeben, ohne zu fragen: „Glaubst Du? Widersagst Du dem Irrglauben? Willst Du Dich zur Gemeinde halten?“
Andererseits werden fast überall in der Kirche auch andere Menschen aus anderen „sachfremden“ Gründen getauft, zum Beispiel, weil sie gern als Pflegerin oder Pfleger, als Erzieherin oder Erzieher arbeiten wollen und darum Mitglied der Kirche sein müssen. So manch Bewerber sagt dann: Okay, wenn die Kirchenmitgliedschaft eine Einstellungsvoraussetzung ist, dann lasse ich mich eben taufen…“ Und manchmal sagt er dazu „… in Gottes Namen.“
Gerade letzte Woche geisterte es durch das Internet, dass ein Priester einem Kind die Taufe nicht spenden wollte, weil die Personen, die ihn erziehen, zwei lesbische Frauen sind. Wie können solche Menschen einem Kind der kirchlichen Regel entsprechend den christlichen Glauben weiter geben? Ist es nicht richtig, ja geradezu nötig, im Zusammenhang mit der Taufe nach moralischen Grundregeln zu fragen und Menschen, die „in Sünde leben“ vom heiligen Sakrament auszuschließen?
Wer solche Fragen stellt, versteht die Frage des Äthiopiers als eine Frage nach Grenzen, nach verschlossenen Türen, nach Gründen, etwas Lebensnotwendiges zu verweigern. Wer solche Fragen stellt, macht sich in gewisser Weise zum „Haremswächter“, indem er das Innere Heiligtum der Christenheit zu bewahren versucht.
Und gerade, indem er es so begrenzt und einschließt, vernichtet er es. Das ist meine feste Überzeugung. Ein lebendiger Organismus braucht eine Grenze, ja. Er braucht eine Hülle, eine Haut oder ein Fell, wenigstens eine Membran, die seinen Körper begrenzt, definiert. Jeder Organismus hat eine Grenze nach außen, die klar macht – was innen ist, gehört dazu, was draußen ist, gehört nicht dazu.
Aber diese Grenzen müssen durchlässig sein. Der menschliche Körper atmet durch die Haut, schwitzt durch die Haut, gibt Wärme ab; und gleichzeit nimmt er Wärme und Licht auf durch seine Haut, verbindet sich mit der Umwelt und wird ein Teil davon. Eine Haut, die undurchlässig und dicht wäre, würde in kürzester Zeit nur noch einen toten Körper umhüllen.
Das gilt für Menschen, Tiere und Pflanzen, für alle lebendigen Wesen. Das gilt auch für Dörfer, Städte, Länder und Kommunen, auch für ganze Staaten. Wenn die Grenzen dicht gemacht werden, wenn sich das Leben dem Austausch und dem Kommen und Gehen entzieht, wird es in kurzer Zeit sterben. Und das gilt auch für die Kirche, für den Leib Christi!
Die Taufe ist in gewisser Weise die „Haut“ der Kirche. Schon in der Bibel heißt es: „Wer glaubt und getauft wird, der wird selig werden.“ In alten Kirchen steht das Taufbecken oft am Eingang der Kirche, manchmal sogar in einer eingens für Taufgottesdienste vorgesehenen Seitenkapelle, in einem Baptisterium. So wird sinnenfällig – geradezu symbolisch – erfahrbar: Wer in die Kirche hinein möchte, wird getauft. Wer getauft ist, gehört dazu.
Aber was braucht man nun, um getauft zu werden, um in die Kirche aufgenommen zu werden? Den Glauben. Und sonst nichts. Den Glauben an die Liebe Gottes, der Menschen mit offenen Armen aufnimmt. Dessen Gnade allen menschlichen Leistungen vorangeht und trotz aller Schuld gilt. Das Vertrauen auf Gott, das oft genug nur klein beginnt, zweifelt und wankt, und dennoch reicht, um sich auf den Weg zu machen und ihm zu begegnen, und sei es in der Gestalt eines Philippus.
Wer hier andere Grenzen aufrichtet, verwandelt die durchlässige Haut der Kirche in ein einengendes, erstickendes, unbewegliches Gehäuse, das über die Zeit den Tod bringen wird. Eine solche Kirche vergisst die Liebe Gottes, verweigert sich der Bewegung, die Christus ihnen vorgelebt hat, verschließt sich dem Geist, den Gott über sie und in sie ausgegossen hat.
Den Glauben braucht man. Der Äthiopier spricht nicht einmal ein Glaubensbekenntnis, verpflichtet sich anscheinend zu nichts, bringt keine Paten und keine Taufzeugen mit. Philippus glaubt ihm auch so, dass er es ernst meint mit seiner Frage. „Was hindert es denn, dass ich getauft werde?“
Und so selbstverständlich, wie Philippus auf den Wagen des Ausländers mit der offensichtlich seltsamen Sexualität geklettert ist, so selbstverständlich steigt er nun mit ihm in diesen kleinen offenen Brunnen, aus dem die Tiere trinken und die beiden mit großen Augen ansehen: Ich taufe dich im Namen des Vaters, der Himmel und Erde gemacht hat; und im Namen des Sohnes, der gestorben ist und auferstanden um uns und um alle anderen Sünder zu erretten, und im Namen des Heiligen Geistes, der das Band der Liebe Gottes ist, der alle Grenzen überwindet, alle Wunden heilt, der alle Tränen trocknet und alle Glaubenden zu der einen, heiligen, allumfassenden Kirche des Christus macht.
Und dann hat Philippus seine Aufgabe erfüllt. Er verschwindet geradezu vor den Augen des äthiopischen Ministers, des „Haremswächters“, der nun doch noch in Israel entdecken durfte, wo er Heimat findet, wo er angenommen ist, so wie er eben ist.
Und der zieht seine Straße „fröhlich“.
Was aus ihm geworden ist, wissen wir nicht. In Äthiopien erzählt man sich, dass er als erster Mensch „aus den Völkern“, der also nicht Jude war, und trotzdem getauft wurde, zu hohen Ehren kam und die äthiopisch-orthodoxe Kirche begründete. Mag sein. Es ist eine Heiligenlegende, und wie viele dieser Geschichten hat sie vermutlich einen wahren Kern.
Die äthiopisch-orthodoxe Kirche ist jedenfalls die älteste noch existierende christliche Glaubensrichtung, die es weltweit gibt. Ihre dokumentierte Geschichte geht bis in das erste Jahrhundert nach Christus zurück. Aber auch an ihr gingen die dogmatischen Streitigkeiten der Kirchengeschichte und die politische Wirren zwischen Afrika, Asien und Europa nicht spurlos vorbei. Heute ist die äthiopisch-orthodoxe Kirche innerhalb der Ökumene umstritten, weil sie die ewige Göttlichkeit Christi ablehnt und darum das apostolische Glaubensbekenntnis nicht mitbeten kann.
Auch in der Kirche werden immer wieder Mauern und Grenzen errichtet. Doch gibt es Hoffnung. Immer wieder.
Doch immerhin – wenn es um die Taufe geht, ist sich inzwischen die Christenheit im Wesentlichen einig. Wer glaubt und getauft wird, der wird selig werden.