Eine Predigt über 1. Petrus 2, 2-10 am 6. Sonntag nach dem Dreieinigkeitsfest zur Erinnerung an die Taufe
Wir sind das Volk!
Erinnern Sie sich? Was für ein starker, mutiger, begeisternder Satz das war!
In einer Zeit, die reif war für einen neuen Anfang, für einen Umbruch, trafen sich Menschen und forderten ihr Recht ein: Nicht länger sollten die Mächtigen regieren, die mit Drohungen und Einschüchterung die Menschen klein hielten. Nicht länger sollten Spitzel, Funktionäre und ihre Parteigenossen das Leben bis in den Alltag hinein bestimmen, nicht länger sollten sie im Namen des Volkes und doch an seinem Willen vorbei ein System voller Ungerechtigkeit und Willkür am Leben erhalten.
Ja, es war nicht alles schlecht gewesen im real existierenden Sozialismus, aber es war ganz sicher die Zeit gekommen, einen neuen Versuch zu wagen. Wir sind das Volk!
Mit diesem Ruf haben Menschen auf den Montagsdemonstrationen zurück gefordert, was ihnen eigentlich gehört. Sie haben ihre Rechte in Anspruch genommen, das Recht auf Entscheidungsfreiheit über die öffentliche Ordnung, die Souveränität über die Politik und das gemeinsame Leben in der Stadt und auf dem Land, das Recht auf wirklich demokratische Wahlen und die Chance, Anteil zu nehmen an der Gestaltung der Zukunft.
Wir sind das Volk! Zusammen mit dem Satz „Die Mauer muss weg!“ steht dieser Ruf bis heute für das Begehren nach Einheit, nach Freiheit und nach einem Leben in der Verantwortung für das Gemeinwesen.
Wir sind das Volk! – Das war ein verbindender, stark machender Ruf. Dazu gehörte die Bereitschaft, etwas zu tun,Verantwortung zu übernehmen. Das war ein Satz, der die Wirklichkeit in der DDR zu einem gemeinsamen Anliegen der Bürgerinnen und Bürger machte, zu etwas, an dem man arbeiten konnte und das einen nicht nur überrollte wie eine Gewitterfront, etwas, das man wie eine Naturkatastrophe passiv zu ertragen hatte. Zusammen mit anderen wollte man etwas unternehmen, etwas aufbauen, etwas besser machen.
Ein Volk, eine Nation braucht etwas Verbindendes, eine gemeinsame Geschichte, Werte und Überzeugungen, für die sie stehen. Verbindend ist die Sehnsucht nach Freiheit, das Vertrauen zu einer Verfassung und zu einer Regierung, die sich an die Grundrechte hält. Der Ruf „Wir sind das Volk“ ist dann auch ein Bekenntnis zu dieser Überzeugung und eine Verpflichtung auf diese grundlegenden Werte, die die Menschen verbindet.
Wir sind das Volk. Ein starker, mutiger Satz.
Ein Satz, der auch missbraucht werden konnte. Später – nach dem Fall der Mauer – kamen andere, die diesen Satz auch auf Demonstrationen riefen, aber sie meinten ihn nicht verbindend, Gemeinschaft stiftend, aufbauend. Sie übernahmen nicht Verantwortung, indem sie ihn riefen. Sie stellten zwar Forderungen auf, aber sie waren nicht wirklich bereit, selbst etwas zu tun, um sie zu verwirklichen. Sie riefen nicht nach verbindendem Recht innerhalb Europas in einer globalisierten Welt, sondern nach einer ausgrenzenden Ordnung der getrennten Nationalstaaten. „Wir sind das Volk!“ hieß bei ihnen nicht: Wir alle wollen mit reden, mit gestalten, mit aufbauen – bei ihnen bedeutete es: Wir gehören dazu und ihr nicht. Wir sind drinnen und ihr müsst draußen bleiben. Wir haben Recht und ihr liegt falsch! Wir wollen die Macht und ihr – geht doch zurück, wo ihr her gekommen seid!
Der Ruf „Wir sind das Volk“ wird ohne den gleichzeitigen Appell „Die Mauer muss weg!“ irgendwie schief. Vor allem, wenn statt dessen im Mittelmeer oder in Ungarn oder in Österreich wieder Grenzen errichtet und Mauern gebaut werden. Wenn es erst einmal so weit ist, dauert es auch nicht lang, bis jemand einen Schießbefehl erteilt und Hunde oder automatische Drohnen am einem Todesstreifen patrouillieren.
Ihr seid das Volk! So heißt es heute im Predigttext im ersten Petrusbrief. In dieser Predigt (dieser Brief ist nämlich eine Predigt), die wohl von Anfang an an die ganze Christenheit gerichtet war, wird nicht von einem eigenen Anspruch geredet, nicht von einer Forderung, die Menschen erheben. Es geht vielmehr um einen Zuspruch Gottes an die Kirche, an die Gemeinden: Ihr seid getauft, und dadurch seid ihr zu Menschen Gottes geworden. Ihr seid sein Volk.
Das ist auf der einen Seite ein Geschenk, das man eben nicht einfordern und beanspruchen kann. Umsonst wird es uns gegeben, ein Versprechen von Gott. Auf der anderen Seite ist es aber auch mit verschiedenen Bedingungen verbunden…
Auch wenn Gott sagt: „Ihr seid das auserwählte Volk“ geht es um etwas Verbindendes, um eine lebendigeGemeinschaft. Es geht hier wieder nicht um Ausgrenzung, sondern um ei n Miteinander der glaubenden Menschen. Das auserwählte Volk sind in der Bibel zuerst die Juden – und in zweiter Linie eben auch die Kirche, alle Christinnen und Christen katholisch und evangelisch, anglikanisch und orthodox, Methodisten und Baptisten (und meiner Ansicht nach auch die Muslime, sofern sie ein lebensbejahendes und menschenfreundliches Bekenntnis mit uns teilen.), und was es da sonst noch in Gottes großem, bunten Garten an Pflanzen und Pflänzchen gibt.
Nicht Trennung, gegenseitiges Verurteilen und Ausschließen ist das Ziel. Das wäre ein Mißbrauch des Wortes vom „Volk Gottes“. Wenn wir diesen Weg einschlagen, sind wir schnell wieder bei Kreuzzügen, beim „Heiligen Krieg“ und der heillosen Verfolgung von Andersdenkenden; bei Motiven, an denen die Kirchengeschichte leider so reich ist.
Statt dessen geht es darum, dass alle glaubenden Menschen sich als eine Gemeinschaft der „Kinder Gottes“ empfinden können, eben als das Volk Gottes, als die „Herausgerufenen“, als der Leib, in dem Christus das Haupt ist.
Die Kirche, das Volk Gottes in dieser Welt, hat die Aufgabe, das Evangelium zu verkünden – die Botschaft von der Nähe, der Liebe und der Gnade Gottes, der ein erfülltes Leben für alle Menschen will.
Dieser Auftrag gilt nicht nur Pfarrerinnen und Pfarrern. Kein Geistlicher kann und darf sagen „Das Volk bin ich.“ Das Volk Gottes sind wir alle gemeinsam. Alle, die getauft sind, die im Abendmahl Leib und Blut Christi empfangen, die sich immer wieder ansprechen lassen durch das Wort Gottes, das in Christus Mensch geworden ist. Er ist unser Friede.
Für uns ist diese Gemeinschaft in der Taufe begründet. Wo wir durch Wasser und Geist neu geboren worden sind, wo der Name Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes über uns genannt ist, da ist der Grund für die Gemeinde der Christen gelegt.
Wie in einem demokratischen Staat alle Bürgerinnen und Bürger für das Funktionieren der Gemeinschaft mit verantwortlich sind, so sind es wir Christinnen und Christen auch für das gemeinsame Leben in der Kirche.
Ihr seid das Volk! Dieser Satz ist auch in der Bibel mit dem Zusatz verbunden, dass die Grenzen und Mauern, die menschengemachten Unterschiede fallen müssen. Historisch gesehen waren und sind Unterscheidungen im Glauben, die verschiedenen Konfessionen in unserer Kirche hilfreich gewesen, sind wohl bis heute sinnvoll, denn sie machen einen großen Reichtum in unserer Gemeinschaft aus. Aber sie dürfen und sollen nicht trennen, denn es gilt: EIN Herr ist es, EIN Glaube – und EINE Taufe.