Von Umberto Eco gibt es ein Buch mit dem Titel „Die Insel des vorigen Tages“. Die Geschichte spielt unter anderem auf einem Segelschiff, das nahe einer kleinen Insel im Pazifik auf eine Sandbank aufgelaufen ist und sich nicht mehr allein befreien kann. Die Sandbank liegt nur ein paar Seemeilen westlich der Datumsgrenze, und die Insel liegt in Sichtweite, aber östlich der Datumsgrenze.
Die Seemänner auf dem gestrandeten Schiff sehen immer wieder hinüber zu der Insel und lassen sich faszinieren von den philosophischen und praktischen Folgen der Tatsache, dass sie hinübersehen auf ein Land, das in einer anderen Zeit existiert. Während bei ihnen bereits Sonntag ist, ist dort drüben erst Samstag. Den Tag, den sie gerade erlebt haben, könnten sie dort drüben noch einmal erleben. Wenn sie dann aber zurück kämen, würden sie einen ganzen Tag überspringen müssen, gewissermaßen zurück in die Zukunft reisen…
Die Artikel zu „Datumsgrenze“ bei Wikipädie und anderen Online-Enzyklopädien fand ich zeimlich verwirrend und schwer zu verstehen. Was genau ist die Datumsgrenze und warum braucht man sie? Und warum geschehen dort so seltsame Dinge mit der Zeit? Ich will versuchen, es einfacher zu erklären als den Autorinnen und Autoren der Wikipädie das gelungen ist.
Die Erde dreht sich jeden Tag einmal um sich selbst, und nach einer Konvention der Menschheit ist es immer dort gerade zwölf Uhr mittags, wo die Sonne auf ihrer Bahn am Himmel ihren höchsten Punkt erreicht. Gegenüber, auf der anderen Seite der Welt, ist dann Mitternacht.
So hat theoretisch jeder Punkt auf der Erde seine eigene Zeit – bis ins Mittelalter hinein haben die Menschen auch so gerechnet, es gab eine Berliner Zeit und eine Hamburger Zeit, Londoner und Pariser Zeit und so fort. Im einem Zeitalter, in dem die Postkutsche das schnellste Fortbewegungsmittel war, schien allen diese Regelung annehmbar.
Seit der Zeit der ersten Eisenbahnlinien (und damit der ersten Fahrpläne) und im Zeitalter der Telegraphie und der schnellen Kommunikation sorgten die vielen verschiedenen Zeitzonen aber für Verwirrung.
Man einigte sich darauf, den Vollkreis von 360 Grad rund um den Äquator in 24 Zeitzonen aufzuteilen, also jeweils 15 Grad breit, und in diesem Bereich eine für alle verbindliche Zeit festzulegen. Wenn es also in London Mittag ist, dann auch in Portugal und in Mali, wenn es in Finnland Mitternacht ist, dann auch in Ägypten und in Südafrika. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen hat man sich aber nicht überall auf diese Regelung geeinigt; die Mitteleuropäische Zeit MEZ reicht beispielsweise von Spanien bis Polen und Schweden, über ein Gebiet, das sich normalerweise über vier Zeitzonen erstrecken müsste. Das führt dann dazu, dass in Polen die Sonne dreieinhalb Stunden früher aufgeht als in Spanien, sie geht aber auch fast vier Stunden früher unter… Wenn Hamburg von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends Sonnenlicht hat, ist es Warschau von fünf Uhr bis fünf Uhr hell, in Spanien geht die Sonne erst um acht auf und erst spät abends wieder unter, wenn es in Polen schon dunkle Nacht ist.
Normalerweise aber gilt: Reist man nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen, muss man etwa alle 1200 Kilometer die Uhr eine Stunde vorstellen, weil man dann in eine andere Zeitzone gereist ist.
Reist man auf diese Art um die Welt herum, fehlt einem am Ende ein ganzer Tag, denn man hat in jeder Zeitzone eine Stunde verloren.
Aus diesem Grunde gibt es im Pazifik die Datumsgrenze. Wenn hier Mitternacht ist, schreibt man auf der ganzen Erde dasselbe Datum – für einen kurzen Moment. Doch westlich der Mitternachtslinie ist dieser Tag vergangen, während der östlich der Linie gerade erst beginnt. Dann aber zieht die gedachte Mitternachtslinie nach Westen fort, der Sonne hinterher. Nach einer Stunde ist zwischen der nun entfernten Mitternachtslinie und der Datumsgrenze ein Gebiet, in dem die erste Stunde des neuen Tages vergangen ist. Auch westlich der Mitternachtslinie ist eine Stunde vergangen – aber es ist eine Stunde des Tages, der auf der Ostseite bereits vergangen ist und hier erst begonnen hat… (O weh; ich fürchte, das ist jetzt genau so verwirrend wie der Artikel auf Wikipedia…)
Wenn man von Westen nach Osten um die Erde herum reist und in jeder Zeitzone eine Stunde verliert, indem man die Uhr vorstellt, muss man hier an der Datumsgrenze die Zeiger einen ganzen Tag zurück drehen. So ist gewährleistet, dass man wieder das richtige Datum schreibt, wenn man in seiner Heimat ankommt. (Ist das ein Spoiler, wenn ich hier schreibe, dass diese Tatsache in Jules Vernes Roman „In achtzig Tagen um die Welt“ eine wichtige Rolle spielt?)
Noch ein Beispiel: Wenn es in London Mitternacht ist und beispielsweise ein Donnerstag beginnt, ist es an der Datumsgrenze zwölf Uhr – aber westlich der Datumsgrenze ist Donnerstag, während auf der östlichen Seite noch Mittwoch ist – solange, bis die Mitternachtslinie um die Erde herum wandert und auch hier der Donnerstag beginnt.
Man schaut also den ganzen Tag lang vom Schiffswrack östlich der Datumsgrenze auf die Insel des vorigen Tages hinüber… Immer ist dort die selbe Uhrzeit, aber vierundzwanzig Stunden früher… (War das jetzt verständlicher?)
Im Zeitalter eines weltumspannenden Netzwerks von Computern ist auch das Konzept der Zeitzonen schwierig geworden, denn wenn man sich beispielsweise zu einem online-Treffen verabredet, muss man immer sagen, für welche Zeitzone die angegebene Uhrzeit gemeint ist. Das Netz insgesamt zu synchronisieren über alle Zeitzonen hinweg erfordert einen erheblichen technischen und programmiertechnischen Aufwand.
Eine schweizer Uhrenfirma hat deshalb vorgeschlagen, für das Internet eine eigene Zeitrechnung und eine eigene Zeitzone einzuführen. Die vierunszwanzig Stunden des Tages sollten in tausend „Beats“ unterteilt werden, die überall auf der Welt gleichzeitig wären, unabhängig von der dort geltenden Zeitzone. Wenn ich mich mit jemandem aus New York und mit jemandem aus Tokio um @667 verabrede, sind wir gleichzeitig online, auch wenn es im New York erst elf Uhr vormittags und in Tokio schon Mitternacht ist.
Und natürlich stellt eben jene schweizer Uhrenfirma – und nur die – Uhren her, die die Ortszeit und die Beat-Zeit gleichzeitig darstellen kann. Durchgesetzt hat sich dieses System aber bisher nicht…