„Komm!“, sagte Professor Zwiffels und drückte entschlossen auf die Klinke der eisernen Tür. „Ich werde es Dir zeigen.“ Als er die Tür öffnete, gab es ein zischendes Geräusch, und ein leiser Windhauch strömte den beiden entgegen, wehte ihnen die Haare aus dem Gesicht. Zögernd folgte Anna dem Professor in einen großen, runden Raum.
Ihre Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, aber dann erkannte sie, dass sich über ihr eine große, metallene Kuppel wölbte. Sie sah nicht aus wie die bemalten Kuppeln, die Anna aus den Kirchen kannte, sondern schlicht und irgendwie – technischer. Hier und da waren Zahnräder zu erkennen, die mit Antriebsketten aus kleinen schwarzen Kettengliedern verbunden waren, und dort am unteren Rand, wo die Kuppel in die Seitenwände des Raumes überging, waren große Räder wie von Eisenbahnwagen, die auf einer Schiene rollen konnten. Anscheinend ließ sich die Kuppel über dem Raum drehen so wie der obere Teil einer Windmühle.
In der Mitte des Raumes stand eine Maschine, die aussah wie eine gigantische Stimmgabel mit zwei Zinken, und zwischen den Zinken hing ein großes Rohr in einem drehbaren Gestell, wie eine Kanone auf ihrer Lafette. „Mit diesem Ding kannst Du in die Vergangenheit sehen.“ sagte Professor Zwiffels, „Du kannst Planeten, Sterne und ganze Galaxien sehen, aber nicht so, wie sie jetzt aussehen, sondern wie sie vor langer Zeit ausgesehen haben, Du kannst sogar zurück sehen bis zu dem Moment, in dem die Weltgeschichte begonnen hat…“
„Ist das eine Zeitmaschine?“ fragte Anna. Dieses Gerät unter der Kuppel sah zwar seltsam genug aus, aber eine Zeitmaschine hatte sie sich doch erheblich komplizierter vorgestellt, und – hm, nun ja, futuristischer, nicht aus Zahnrädern, Kanonenrohren, schweren Gewichten und dicken Fahrradketten zusammengesetzt.
„Nein“, sagte der Professor, „das ist mein Quanten-Tele-Chronoskop. Es ist schon über hundert Jahre alt, und eigentlich ist es nur ein besonders großes Fernrohr. Es macht mir nur Spaß, einen interessanten Namen dafür zu haben, mit dem ich die Touristen beeindrucken kann. Aber du kannst wirklich in die Vergangenheit damit sehen.“
„Uiih!“ staunte Anna und machte große Augen… „Wie funktioniert es denn? Bestimmt ist das ein großes Geheimnis. Hat der, der es erfunden hat, den Nobelpreis dafür bekommen?“
„Nein, als das Fernrohr erfunden wurde, gab es den Nobelpreis noch gar nicht. Es ist aber auch kein wirklich großes Geheimnis dabei; in jeder Stadtbücherei findest Du ein Buch, in dem steht, wie Du ein solches Fernrohr bauen kannst und wie es funktioniert. Es besteht aus einem großen Spiegel und ein paar Linsen aus Glas; der Rest ist nur, hm, Verzierung… Und – Du kannst mit jedem Fernrohr in die Vergangenheit sehen, aber das macht sich nicht jeder klar.“
„Eigentlich blickst Du immer, mit jedem Augenblick, in die Vergangenheit, denn – wohin Du auch guckst – das Licht braucht einen winzigen Sekundenbruchteil, um von dort in Deine Augen zu kommen. Denn Lichtstrahlen sind zwar unglaublich, geradezu wahnsinnig schnell – aber eben nicht unendlich schnell.
Lichtstrahlen fliegen 300 000 Kilometer in jeder Sekunde. Schneller als alles andere, was es gibt. Wenn Du zum Beispiel beim Wandern eine Bergspitze siehst, die noch drei Kilometer weg ist (Du würdest wohl eine knappe Stunde bis dahin brauchen…), dann braucht das Licht von dieser Bergspitze in deine Augen eine hunderttausendstel Sekunde. Du siehst also die Bergspitze nicht so, wie sie jetzt ist, sondern so, wie sie vor einer hunderttausendstel Sekunde war. Natürlich hat sie sich in dieser Zeit nicht sehr verändert, darum merkst Du es nicht.“
Der Professor drückte ein paar Knöpfe auf einem Schaltpult, ein kleines rotes Licht leuchtete auf, und irgendwo surrte es leise. Über Anna und dem Professor öffnete sich die Kuppel einen Spalt breit, und sie konnte Sterne am Nachthimmel erkennen, kleine flimmernde Lichtpunkte, die zu ihr herunter blinzelten.
Dann sagte er: „Im Weltall, wo die Entfernungen viel größer sind als auf der Erde, könnte man solche Dinge viel deutlicher wahrnehmen. Wenn zum Beispiel jemand jetzt, in diesem Moment, die Sonne ausknipsen würde wie eine Glühbirne, dann würden wir fast acht Minuten lang gar nichts davon merken, denn so lange braucht das Licht von der Sonne zur Erde. Erst nach acht Minuten würde es plötzlich dunkel und kalt. Wenn Du draußen zur Sonne siehst, siehst Du also die Sonne nicht so, wie sie jetzt ist, sondern, wie sie vor acht Minuten war.“
„Um den Planeten Jupiter kreisen eine ganze Menge Monde, die vier größten davon hat man gleich mit dem allerersten Fernrohr entdeckt, schon vor Jahrhunderten.“ erklärte der Professor. „Und man hat sie genau erforscht. Man kennt ihre Größe, ihr Gewicht und die Zeit, die sie brauchen, um um den Planten Jupiter herum zu kreisen. Immer wieder treten sie in den Schatten des Planeten ein, dann werden sie von der Erde aus unsichtbar, aber man kann genau ausrechnen, wann sie wieder erscheinen werden. Als man diese Rechnungen überprüfen wollte, stellte man fest, das irgendetwas nicht stimmte: Man hatte die ersten Messungen im Sommer gemacht, und als man im Winter danach die Messungen noch einmal überprüfte, gingen die Jupitermonde eine Viertelstunde nach. Sie traten später in den Schatten des Planeten ein, als sollten, und kamen auch entsprechend später wieder in das Licht.“
„Die Wissenschaftler wunderten sich darüber und konnten diese Ungenauigkeit nicht erklären. Als sie ein paar Monate später noch einmal nachmessen konnten, stimmte auf einmal alles wieder…“
„Es war ein sehr heller Kopf, dem auffiel, dass in diesem Sommer die Erde auf ihrer Umlaufbahn auf der selben Seite der Sonne stand wie der Planet Jupiter, im Winter stand sie auf der anderen Seite, also ein paar hundert Millionen Kilometer weiter vom Planeten Jupiter entfernt. Und das Licht, das vom Planeten Jupiter und seinen Monden zur Erde kam, brauchte darum auch ungefähr eine Viertelstunde länger für die Strecke.
Das war das erste Mal, das man wirklich beweisen konnte, dass das Licht nicht unendlich schnell ist. Wenn es den Nobelpreis damals schon gegeben hätte: Olaf Römer, so hieß der Mann mit dem hellen Kopf, hätte ihn sicher verdient…“
Während der Professor sprach, hatte er das Quanten-Tele-Chronoskop auf das Sternbild Orion ausgerichtet. Anna kannte es gut, sie hatte es schon oft am Winterhimmel gesehen, es war auffällig und leicht zu finden: zwei helle Sterne „oben“, drei helle Sterne in einer Reihe „darunter“, und ganz „unten“ noch einmal zwei helle Sterne. Das Ganze sah ein bisschen so aus wie eine riesige Eieruhr, oder wie ein Kerl mit breiten Schultern, der stolz und breitbeinig zwischen den Sternen stand. Unter seinem Gürtel aus drei Sternen konnte Anna so ein rötliches Geflimmer erkennen, das nicht wie ein Stern aussah, aber sie konnte sich nie denken, was es sonst sein sollte.
Als sie nun durch das Fernrohr sah, erkannte sie leuchtende, rote Wolken, fast wie die zwei Flügel eines Schmetterlings, ein paar dunkle Schleier davor und einige helle Sterne. „Die Sterne, die Du da siehst, sind ganz neu, gerade erst entstanden. Sie sind noch keine hunderttausend Jahre alt. Für Dich und mich ist das zwar eine Menge Zeit, aber nicht für einen Stern. Das da sind noch richtige Babies, die ihr ganzes Sternen-Leben noch vor sich haben.“
„Das Licht braucht von dort, wo dieser Sternennebel ist, bis hierher zu uns tausend dreihundert und fünfzig Jahre. Vielleicht sind in diesen tausend Jahren, in denen die Lichtstrahlen durch das dunkle Weltall geflogen sind, dort drüben noch ein paar neue Sterne entstanden, die wir nur darum nicht sehen, weil ihr Licht noch gar nicht hier angekommen ist. Wir könnten auch sagen: Wir sehen in die Vergangenheit und sehen den Orionnebel so, wie er vor 1350 Jahren war. Das ist genau dasselbe, nur mit anderen Worten gesagt.“
Wieder schwenkte Professor Zwiffels das Quanten-Tele-Chronoskop unter der dunklen Kuppel herum. Jetzt zeigte es in Richtung einiger eher unscheinbarer Sterne in der Nähe des großen Himmels-W, das, wie Anna wusste, Kassiopeia hieß. Als sie hindurch sah, erkannte sie einen nebligen Fleck, wie eine Mandel geformt… „Das ist kein Nebel, keine Gaswolke mit ein paar Sternen, wie der Orionnebel, den Du gerade gesehen hast.“,sagte Professor Zwiffels, und seine Stimme klang beinahe ehrfürchtig, als ob er über etwas Heiliges reden würde. „Das ist eine Galaxie, eine andere Milchstraße, so wie unsere eigene auch. Eine riesige flache Scheibe aus hundert Milliarden Sternen. Es gibt dort mehr Sterne, als es Menschen auf der Welt gibt.“
„Hier im Fernrohr kannst Du nur den hellen Kern dieser Scheibe sehen, dort stehen die Sterne so dicht zusammen, dass man keine einzelnen Sterne mehr erkennen kann. Die Andromeda-Galaxie ist aber viel größer als dieser Kern, sie hat um den Kern herum Spiral-Arme aus Sternen und Staub, aber sie sind nicht so hell, dass Du sie in meinem Teleskop sehen könntest. Das Licht von dort, das jetzt gerade in deine Augen fällt, war mehr als zwei Millionen Jahre unterwegs!“
„Wenn dort jemand leben würde, der ein Super-Quanten-Teleskop hätte, das so fantastisch wäre, dass er unsere Erde darin erkennen könnte, der würde jetzt sehen, wie hier die allerersten Australopithecus-Menschen von den Bäumen klettern, und wie sie vielleicht gerade das Feuer entdecken oder das Rad erfinden…“
„Sehr viel weiter kannst Du mit diesem Teleskop nicht in die Vergangenheit sehen, das Licht von Sternen oder Galaxien, die noch weiter weg sind, ist für unsere Augen zu schwach. Wir sehen ja immer nur das Licht, das gerade jetzt hier ankommt. Ich kann aber einen Fotoapparat hier unten an das Fernrohr montieren, dann kann ich ein Foto machen, das die ganze Nacht lang belichtet wird, das sozusagen die Lichtstrahlen von vielen Stunden in einem Bild sammelt. Auf so einem Foto werden dann Sterne sichtbar, die noch nie ein Mensch mit eigenen Augen gesehen hat.“
Anna konnte etwas wie Sehnsucht in den Augen des Professors entdecken. Reiselust, Fernweh. Bestimmt hatte er sich schon oft heimlich ein Raumschiff gewünscht, mit dem er schnell wie ein Gedanke, wie ein Traum zu diesen fernen Sternen reisen konnte, um die Leute zu treffen, die dort wohnen, und die Wunder in ihrem Teil des Weltalls zu erforschen…
„Es gibt auch ein Teleskop, das im Weltall in einer Umlaufbahn um die Erde kreist und dort Fotos macht. Weil es dort keine Luft gibt und das Teleskop nicht erst durch die Atmosphäre in das Weltall sehen muss, werden die Bilder sehr viel schärfer und man kann sehr viel deutlicher Dinge erkennen, Planeten, Sterne, ferne Galaxien…
„Einmal hat man das Teleskop auf eine dunkle Stelle am Himmel gerichtet, wo es scheinbar gar nichts zu sehen gab, und hat zwei Wochen lang das Licht gesammelt: Dann waren hunderte von Galaxien auf dem Bild zu erkennen, die mehr als 10 Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt (und 10 Milliarden Jahre in unserer Vergangenheit) sind. Man vermutet, dass man einige von aller-ersten Galaxien überhaupt fotografiert hat, die damals im Weltall entstanden sind. Vorher gab es keine Galaxien, und das Weltall sah ganz anders aus als heute. Aber das ist eine andere Geschichte, die werde ich Dir später mal erzählen.“
Professor Zwiffels sah auf seine Uhr… „Du musst wirklich dringend ins Bett jetzt, meine Dame,“ sagte er, „sonst kriegen wir mächtig Ärger mit Deiner Mutter… Die ist mir zwei Wochen lang böse, wenn ich Dich jetzt nicht nach Hause bringe…“
Später, als Anna im Bett lag, schwirrte ihr ein bisschen der Kopf, diese Zahlen waren geradezu unvorstellbar groß. Millionen, Milliarden, alles das bedeutete ihr jetzt noch nichts.
Aber eins würde sie niemals wieder vergessen: Wie sie in dieser Nacht den Kern des Andromedanebels gesehen hatte, der in der Mitte des runden Bildes im Quanten-Tele-Chronoskops tanzte wie eine Fata Morgana, diesen kleinen leuchtenden Fleck, der in Wirklichkeit das vereinte, gesammelte Licht von unzähligen Sonnen war, die ihr über einen Abgrund aus Trizilionen Kilometer dunklen Raumes zuzwinkerten…