„Heile, heile Gänschen, das Kätzchen hat ein Schwänzchen; heile, heile Mausespeck, in hundert Jahrn ist alles weg… „
Mit diesem Vers hat mich meine Mutter getröstet, damals, als ich fünf Jahre alt war – und dieser Vers hat immer gewirkt. Ob ich mir den Finger eingeklemmt hatte oder mir ein Knie blutig gestoßen, ob mich eine Wespe gestochen hatte oder ob ich vom Fahrrad gefallen war – eine sanfte Hand und diese weisen Worte beruhigten mich immer und konnten alle Tränen trocknen.
Anders wurde das, als ich fünfzehn wurde und zum Beispiel ersten Liebeskummer erlebte. Keine guten Worte und auch nicht mein Lieblingsessen auf dem Mittagstisch konnten da die Schmerzen lindern, die ein zerbrochenes Herz gefühlt. Aber auch da hat die Zeit Wunden geheilt, und es hat nicht hundert Jahre gedauert, bis „alles weg“ war.
Hundert Jahre sind eine lange Zeit, und wirklich ist dann fast jede Wunde verheilt, jeder Fehler verziehen und jede Sünde vergeben. Was aber, wenn es nicht so ist?
Noch die Urenkel einer Generation, die in einem schweren Krieg gelebt hat, werden beeinflusst durch das Trauma, das ihre Urgroßeltern erlitten haben. Das hat die Psychologie seit Jahrzehnten immer wieder erforscht und regelmäßig wieder bestätigt gefunden. Auch Menschen, die selbst keinen Krieg kennen und sich kaum noch erinnern können an die Geschichten, die von den alten Vorfahren erzählt wurden, spüren diffuse Ängste, verhalten sich konfliktscheu und übervorsichtig oder auch übertrieben aggressiv, leiden unter Alpträumen und werden häufiger depressiv.
Die Bevölkerung ganzer Länder leidet heute darunter, dass ihre Heimat einmal Kolonie eines europäischen Landes war; dass ihre Vorfahren in die Sklaverei weg geführt wurden, die Natur zerstört und die Rohstoffquellen ausgebeutet wurden, gewachsene politische und soziale Strukturen vernichtet wurden. Viele ehemalige Kolonien sind nach ihrer „Befreiung“ und dem Abzug der Kolonialherren in Armut, Korruption und Kriminalität abgesunken, wurden lange von skrupellosen Diktatoren unterdrückt, jahrelanger Bürgerkrieg und dauernde Bandenkriminalität verhindern wirtschaftlichen Aufstieg, einen wirklichen Strukturwandel, und halten die Gesellschaft dieser Länder bis heute in Abhängigkeit von ihren früheren Besatzern…
Der Klimawandel begann schon mit der großflächigen Industrialisierung, mit der Abholzung ganzer Wälder, mit dem Verbrauch eines großen Teils des fossilen Brennstoffs, der über Jahrmillionen angesammelt und in einem einzigen Jahrhundert verbrannt wurde. Die Veränderung begann langsam und schleichend, kann aber inzwischen nicht mehr ignoriert werden. Die Erderwärmung beschleunigt sich immer mehr, und niemand kann noch ernsthaft bezweifeln, dass wir es mit den Folgen menschlichen Handelns zu tun haben.
Noch viele kommende Generationen werden mit den Schäden und Katastrophen zu tun haben, die durch das Nicht-Wissen der Menschen im neunzehnten Jahrhundert verursacht und durch die Gier und die Ignoranz der Menschen im zwanzigsten Jahrhundert zu den Enkeln und Urenkeln weiter gegeben wurden.
In hundert Jahren ist eben nicht alles weg, da helfen alle Gänschen und noch so viel Mausespeck nicht. Die Generation „fridays for future“ lässt sich nicht so leicht vertrösten und fordert wirkliche Veränderung und Unkehr von offensichtlich falschen Wegen… Die Verbrechen der kolonialen Vergangenheit lassen sich nicht mit der halbherzigen Zahlung von Entwicklungshilfe wiedergutmachen. Und die Folgen des Krieges bleiben auch, wenn nach vielen Jahrzehnten Regierungen der einstmals verfeindeten Länder vertrauensvoll zusammenarbeiten und die wirtschaftliche Kooperation ehemaliger Gegner allen Beteiligten Reichtum und Wohlstand beschert. Erst durch wirkliche Vergebung kann ein echter Heilungsprozess beginnen.
Es ist kein Zufall, das in diesem Zusammenhang religiös geprägte Sprache verwendet wird: Umkehr von den falschen Wegen ist genau das, was gemeint ist, wenn in der Bibel von Buße geredet wird. Und falsches Handeln in einem strukturell menschenverachtenden und egoistischen System nennt die Bibel mit einem Wort: Sünde!
Hier macht sich meiner Ansicht nach die religiöse Komponente der Menschheitsgeschichte bemerkbar: das Zusammenleben und Zusammenarbeiten der Menschen, Krieg und Frieden, Tod und Leben waren schon immer Gott zugeordnet, waren Dinge, die mit religiösen Gesetzen, Vorschriften und Tabus belegt sind.
Und immer schon haben Menschen die Erfahrung gemacht, dass sie nur auf Kosten von anderen Leben leben können, dass sie für Ernährung, Komfort, Kultur und individuellen wie gemeinschaftlichen Fortbestand mehr aus der Natur entnehmen müssen, als sie zurückgeben können. Die Wenigsten machen sich Gedanken darüber, aber die Klügsten klagen: ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen aus diesem Leibe des Todes?
„Wir sind Sünder, das ist wahr!“ soll Martin Luther noch auf seinem Totenbett geschrieben haben. Wir sind ein Teil dieser Strukturen, ein Rädchen in dem Getriebe einer Maschine, die es uns unmöglich macht, ganz und gar dem Willen Gottes entsprechend zu leben. Wir leben gegen besseres Wissen so, dass wir uns, unseren Mitmenschen und unseren Nachkommen schaden.
Auch angesichts des Krieges in der Ukraine wird uns bewusst, wie hilflos wir oft auch in entscheidenden Fragen sind. Unsere Politiker sitzen wochenlang zusammen und können sich doch nicht entscheiden, ob sie das Risiko eingehen, in den Krieg einzugreifen. Die Armee liefert Waffen an die Soldaten des Landes, das erbarmungslos überfallen wurde, und weiß doch, dass durch ihren Einsatz den Krieg nur verlängert wird.
Und wir spenden Babywindeln und Kinderkleidung, veranstalten Konzerte und sammeln Geld für die geflüchteten Frauen und Kinder, die bei uns Unterkunft suchen, während ihre Männer in der Ukraine kämpfen.
Und sehnsüchtig suchen wir nach Erlösung, nach Trost, wenigstens nach einem kleinen Grund für Zuversicht und Hoffnung. Ein Quantum Trost, an dem wir erkennen, dass das Leben trotz allem sinnvoll ist und wert, gelebt zu werden. Ein Stück Selbstvertrauen, damit wir glauben können, das Richtige zu tun.
Das kann kein billiger Trost, keine Vertröstung sein. Dies ist ein Trost, der etwas kostet. Gott selbst ist in die Welt gekommen, um zu zeigen, dass Veränderung möglich ist. Jesus Christus ist das fleischgewordene Zeichen seiner Liebe. Gottes Liebe ist offenbar geworden zu einer Zeit, in der die Welt noch nicht bereit dafür war. Er ist erschienen, als wir noch Sünder waren.
Ohne Bedingung und trotz aller Schuld wendet er sich uns zu. Von Vertrauen und Liebe hat er gesprochen, seine Wunder hat er aus dem Geist der Barmherzigkeit und der Menschlichkeit getan. Dafür, dass das Göttliche im Menschlichen erscheint und das Menschliche in Gott offenbar wird, war er bereit, ans Kreuz zu gehen. Damit der Tod am Ende nicht recht behält, ist er auferstanden.
Laetare – dieser Sonntag in der Mitte der Fastenzeit ist ein kleines Osterfest, ein Vorschein auf das, was kommen soll. Im Grunde ist ein jeder Sonntag eine solche Unterbrechung des Alltags, ein Osterfest in jeder Woche, in dem wir bekennen: Christus ist auferstanden von den Toten! Tod, wo ist nun dein Stachel? Hölle, wo ist nun dein Sieg?
Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch Christus!
Und überall, wo Menschen für das Leben einstehen, im Singen und Beten, im Helfen und Spenden, in der Gastfreundschaft und in der Nächstenliebe, da wird es Ostern in unserer Mitte, da endet der Hass, da gibt es Grund zur Hoffnung, da siegt das Leben.