„Stell dein Licht nicht unter den Scheffel!“ sagen wir, wenn jemand allzu bescheiden von sich spricht.
Ich kannte eine Ärztin, die in ihrer Jugend als Krankenschwester in Lambarene gearbeitet hatte. Das ist das Krankenhaus, das Albert Schweitzer gegründet hat. Dort hat sie viel Erfahrung gesammelt, und es war Albert Schweitzer selbst, der ihr gesagt hat, sie sollte nicht Krankenschwester bleiben, sie hätte durchaus das Zeug dazu, Ärztin zu werden.
Sie kam nach Deutschland zurück, hat hier studiert und ist Ärztin geworden. Außerdem wurde sie immer wieder als „Albert-Schweitzer-Expertin“ eingeladen zu Fachtagungen und wissenschaftlichen Kongressen, manchmal hat sie vor 2000 Menschen von ihren Erfahrungen berichtet. Aber sie blieb immer schüchtern und bescheiden bis dahin, dass sie sich selbst wenig bis nichts zutraute. Als ich sie einmal eingeladen habe, vor ein paar alten Menschen in der Kirchengemeinde zu sprechen, hat sie abgesagt, weil sie keine Zeit hatte, sich vorzubereiten. Ich sagte ihr, so eine kleine Ansprache schütteln sie doch aus dem Ärmel – aber sie wollte nicht und sagte mir, dass sie sich auf jeden Vortrag eine Woche lang vorbereiten muss…
Das kommt gar nicht so selten vor: Viele Menschen unterschätzen sich und trauen sich selbst wenig zu. Was sie können, was sie gelernt haben, was sie sich mit vielen Mühen beigebracht haben, das halten sie für selbstverständlich und denken, das kann ja eigentlich jeder. Sie glauben, dass ihr Können und ihre Fähigkeiten gar kein besonderes Talent sind.
Statt stolz auf ihren Erfolg zu sein, schauen sie neidisch auf das, was andere zustande gebracht haben und denken: „Das könnte ich nie…“ Und dabei übersehen sie, wie viel Mühe und Arbeit es die anderen gekostet hat, so erfolgreich zu sein.
„Impostor-Syndrom“ nennen manche Leute dieses Phänomen scherzhaft, „Hochstapler-Syndrom“, und es scheint etwas zu sein, was viele Leute kennen.
Die Redensart vom Licht und dem Scheffel stammt aus der Bibel. In der Bergpredigt ermahnt Jesus seine Jünger, ihren Glauben nicht zu verstecken, nicht so zu tun, als seien sie keine gläubigen Menschen. Ihr seid das Licht der Welt! sagt Jesus. Dieses Licht kann nicht verborgen bleiben, ebenso wenig wie die Stadt auf einem Berg, die man von weithin sieht; ebenso wenig wie das Salz in der Suppe, das man schon beim ersten Schluck auf der Zunge spürt. Und man zündet doch kein Licht an, um es dann unter einem Eimer zu verstecken! Redet von eurem Glauben, gebt weiter, was ihr geschenkt bekommen habt, tragt das Wort, das Hoffnung weckt, hinaus zu den Menschen, die keine Hoffnung haben, die traurig sind und sich fürchten vor Hunger und Krieg, vor Elend und Einsamkeit; sagt ihnen, dass Gott mit ihnen geht!
Auch das Bild von den verborgenen Talenten stammt aus der Bibel. Ein Talent war damals zur Zeit Jesu eine große Summe Geld. So viel Silber, wie ein Mann tragen kann – das war ein Talent. Ungefähr das Jahresgehalt eines Tischlers oder eines Bäckers. Ein Vermögen!
In der Erzählung, die Jesus seinen Jüngern vorträgt, geht es um drei Männer, Haushalter eines reichen und mächtigen Mannes, die sein Geld verwalten sollen, solange der im Ausland ist. Jeder bekommt einen Teil, nicht jeder das gleiche, aber der reiche Mann kennt seine Leute, und er verteilt das Geld je nachdem, was er ihnen zutraut. Vielleicht ist es ja so eher gerecht, jedem nach seiner Fähigkeit zu geben, was er tragen kann, als allen das Selbe anzuvertrauen.
Der erste geht hin und nutzt die Macht und das Vermögen, das ihm gegeben wurde, und er tut das sehr erfolgreich. Der zweite hat weniger zur Verfügung, aber auch er hat Erfolg. Der dritte hat nur wenig zur Verfügung, aber was schlimmer ist, er traut sich selbst nichts zu. Und darum nutzt er nicht, was ihm gegeben wurde. Es ist nicht Faulheit, auch wenn es später in der Geschichte so genannt wird, es ist Angst und mangelndes Selbstvertrauen, die diesen Menschen davon abhalten, sein Potential zu nutzen.
Später hat man das Wort „Talent“ benutzt, um zu sagen, dass jemand etwas gut kann, dass er eine Begabung hat, eine Fähigkeit, die er einsetzen kann zum eigenen Nutzen und zum Guten für die Allgemeinheit. Es wäre dumm, eine solche Begabung, ein solches Talent nicht zu nutzen.
„Ich kann ja doch nichts ändern; auf mich kommt es gar nicht an.“ – „Ich bin alt und müde, was kann ich schon noch in Bewegung setzen!“ Das sind die Worte der Menschen, die ihr Licht unter den Scheffel stellen, die sich fürchten, ihr Talent, ihre Begabung, ihr Können zu nutzen.
Ich bin sicher, dass wir uns selbst täuschen, wenn wir so denken. Wir müssen ja nicht die Welt retten, nicht die große Politik ändern, nicht freihändig den Klimawandel aufhalten. Aber wir können etwas tun an dem Platz, an den Gott uns gestellt hat. In unserer Familie, in der Nachbarschaft, an unsrem Arbeitsplatz.
Wir sagen vielleicht: Ich bin ja nur ein kleines Rädchen in der Maschine, nur ein kleines Steinchen ganz unten in einem großen Bau… Aber die Fachleute, die sich mit Maschinen auskennen, wissen, dass es auf jedes kleine Rad ankommt, damit das Ganze funktioniert, dass auch ein großer Bau über längere Zeit Schaden nimmt, wenn eines der kleinen Steinchen auf dem Fundament fehlt. Wir werden alle gebraucht.