Möge die Macht mit dir sein – Gedanken zum Reformationstag

Christen, und besonders evangelische Christen, haben oft ein sehr gebrochenes Verhältnis zur Macht. In einer Art Tradition des Widerstandes gegen die hierarchische Ordnung des Papsttums begegnen sie selbst kirchlichen Institutionen, autoritären Systemen und Strukturen mit Misstrauen, Vorsicht und Ablehnung, so wie pubertierende Jugendliche sich gegen die Autorität ihrer Eltern wehren.

Wenn ich mit Menschen in evangelischen Gemeinden über Ausübung von Macht gesprochen habe, wurde sie oft sehr schnell gleichgesetzt mit Ausübung von Gewalt; Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Tyrannei wird den Mächtigen unterstellt.

Dabei würde es die protestantische Kirche sehr wahrscheinlich gar nicht geben, hätten nicht viele Fürsten, Landgrafen und auch der Kurfürst Friedrich der Weise den abtrünnigen Mönch Martin Luther und seine Anhänger mit ihrem Einfluss und ihrer Macht unterstützt und vor dem Zugriff des deutschen Kaisers und der päpstlichen Autorität behütet.

Martin Luther hat wohl auch darum sehr positiv von weltlicher Macht sprechen können; er sieht weltliche Regierung in der Tradition eines Paulus als „von Gott eingesetzt“ an und schreibt ihr in seiner Zwei-Reiche-Lehre als „Reich zur Linken (Hand)“ die Eigenschaften des Reiches Gottes zu.

Mit Hilfe der weltlichen Regierung gewann die junge Pflanze „Reformation“ die Zeit und den Raum, den sie brauchte, um Wurzeln zu fassen und sich auszubreiten, ihrerseits Macht und Einfluß zu gewinnen. Nur wenig später hat auch die lutherische Kirche eigene Strukturen entwickelt und bald brannten auch in evangelisch gewordenen Städten und Ländern die Scheiterhaufen, Gott sei es geklagt.

„Reformation“ bedeutet „Veränderung“. Wer reformiert, möchte den Dingen eine neue Gestalt, eine andere Form geben, Fehler ausmerzen und Strukturen verbessern. Das war es, was Martin Luther für die römische Kirche erhoffte. Er wollte – zumindest am Anfang der Reformationszeit – keine neue, „lutherische“ Kirche; er wollte eine erneuerte katholische Kirche.

In der Zeit der Reformation hatte die katholische Kirche ihre Macht vor allem durch die Lehre vom Ablaß gefestigt. Die Menschen glaubten, sich von der Strafe für ihre Sünden loskaufen zu können. Durch „gute Werke“ wie Beten und Fasten, Wallfahrten oder das Kaufen von Ablaßbriefen konnte man sich einen Anteil am „Schatz der Kirche“ sichern, also an dem Heil, das heilige Menschen, christliche Märtyrer und Jesus Christus selbst durch ihre Frömmigkeit erworben hatten und das von der Kirche „verwaltet“ wird. Die Einnahmen aus dem Verkauf finanzierten nicht nur den Bau des Petersdomes in Rom, sondern überhaupt einen großen Teil der kirchlichen Arbeit in jener Zeit.

Martin Luther aber argumentierte gegen den Ablass. Er hatte den Römerbrief studiert, hatte die neutestamentliche Theologie durchdacht und war zu der Erkenntnis gekommen, dass der Mensch von Gott gerecht gemacht wird allein durch seine Gnade. Was immer durch die Schuld des Menschen zwischen Gott und dem Sünder steht, es kann nicht weggenommen werden durch irgendetwas, was der Mensch tun könnte, nur durch die Güte Gottes, die frei und umsonst dem geschenkt wird, der daran glaubt.

Als glaubender Mensch konnte er den Irrweg seiner Kirche nicht tolerieren. Wie es damals üblich war, veröffentlichte er in Latein, der Sprache der Wissenschaft, fünfundneunzig Thesen über die Kraft des Ablasses; die Legende sieht ihn, wie er mit harten Hammerschlägen dieses Thesenpapier an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg schlägt. Er wollte damals keine Revolution auslösen, sondern wissenschaftlich disputieren. Aber andere erkannten die Sprengkraft dieser Gedanken, ließen die Thesen ins Deutsche übersetzen und verbreiteten sie im ganzen deutschen Sprachraum und lösten damit eine Volksbewegung aus. Mit seiner Ablehnung des Bußsakraments traf Martin Luther die römische Kirche an den Grundfesten ihrer Macht.

Heute scheint es mir übrigens oft genug gerade andersherum zu sein: In Predigten in Katholischen Kirchen hört man heutzutage fast regelmäßig das Evangelium von der Gnade Gottes, die uns von unserer Schuld befreien kann, wenn wir uns auf sie einlassen und ihr vertrauen – während man gerade in der evangelischen Kirche oft hört, man müsse eine rigide Ethik einhalten, um ein guter Christ zu sein. Ich denke, dass Luther heute sagen würde, dass wir Evangelischen wieder eine Menge darüber lernen können, was „sola gratia“ (allein aus Gnade) und „sole fide“ (allein durch den Glauben) bedeuten…

Was genau bedeutet eigentlich „Macht“? Macht haben heißt, ordnen, strukturieren, definieren zu können. Macht haben heißt, die Deutungshoheit über die erlebte Wirklichkeit zu haben. Wer Macht hat, kann die Realität nach seinen Vorstellungen erklären, kann Namen vergeben und so die Dinge bewerten und beurteilen, die wir wissen, glauben und erhoffen. Auf diese Weise kann jemand, der Macht hat, dann auch Menschen dazu bewegen, zu tun, was er will.

Ich kann einen Menschen „mit Migrationshintergrund“ Ausländer nennen, Einwanderer oder Neubürger – mit all diesen Worten verbinden sich unterschiedliche Deutungsmuster derselben Wirklichkeit, die aber jede wieder ihre eigene Realität schaffen. Ich kann es Ehebruch und Sünde nennen, wenn zwei verheiratete Menschen sich trennen, ich kann es aber auch neutral als Scheidung bezeichnen. Ich kann den 31. Oktober als Reformationstag einen kirchlichen Feiertag nennen oder die Deutungshoheit der Geschäftswelt überlassen, die sagt „Es ist Halloween, und du musst Kürbisse und Totenkopfmasken kaufen, weil das zu diesem Fest dazu gehört.“ Wenn andere Menschen meine Deutungsmuster übernehmen, die Namen verwenden, die ich geprägt habe, dann geben sie mir Autorität und Macht über ihr eigenes Denken und Leben; wenn ich die Deutungsmuster anderer übernehme, gebe ich ihnen Macht über mich.

Das kann nicht nur die Sicht der äußeren Dinge betreffen, sondern auch mein Selbstbild und mein Bild von Gott: Wenn ich anderen glaube, die mir sagen, dass ich nur durch „gute Werke“ und Ablaßzahlungen vor Gott bestehen kann, dann räume ich diesen Menschen Macht über mich und mein Verhältnis zu Gott ein.

Luther hat mit seinen Thesen also gewissermaßen die Deutungshoheit zurückgefordert über sein Verhältnis zu Gott. Die Antwort auf seine gequälte Frage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ lag in seiner Erkenntnis „Wir werden alle ohne Verdienst gerecht gemacht durch die Gnade Gottes, allein durch den Glauben an seine Güte.“ So setzt Luther für sich selbst und alle, die glauben wie er, eine neue, befreiende Wirklichkeit.

In seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ kann er jubeln: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ Nicht dem Papst, nicht der mönchischen Regel, die Gehorsam fordert, nicht einmal dem Zwang, sich die Gerechtigkeit vor Gott mit Ablaßzahlungen erkaufen zu müssen.

Aber Luther hat in dialektischer Weise gleich auch den Gegensatz dazu geschrieben: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Es ist aber nicht der Zwang, gehorchen zu müssen, sondern die freie Entscheidung des gerecht gemachten Christenmenschen, seine Dankbarkeit, seine Liebe, die ihn dazu treibt, aus dem Gehorsam nach Gottes Willen zu leben.

Der Gedanke, den ich am Reformationstag für uns alle festhalten will, ist also dieser: Lasst euch Eure Deutungshoheit über Eure eigene Wirklichkeit nicht nehmen! Wenn ihr Christen seid, dann klagt diesen Feiertag ein und verzichtet nicht zugunsten von „Süßem oder Sauren“ auf den Reformationstag. Lasst den Sonntag nicht zum Einkaufstag verkommen! Nehmt den Buß- und Bettag als Tag der Besinnung und des Gebets ernst, auch wenn er in Berlin kein verordneter Feiertag mehr ist! Lebt als freie Menschen, und lebt im Gehorsam nach dem Willen Gottes, so wie ihr selbst ihn erkannt habt. Lebt in der Gnade Gottes.

Und möge die Macht mit Euch sein!

Religion ist ein Aufruf zum Frieden

Vor dem Hintergrund vieler scheinbar religiös motivierter Konflikte in vielen Teilen der Welt wird in den Medien und in der öffentlichen Diskussion die Frage nach dem Wert der Religion neu gestellt. Vor allem mit dem Islam verbinden viele Menschen im westlichen Europa und in den Vereinigten Staaten weltanschaulich begründeten Fanatismus, Hass, Terror und Gewalt. Aber auch gegenüber anderen Religionen wie dem Judentum, dem Hinduismus und den verschiedenen christlichen Konfessionen steigt das Misstrauen. Wäre die Menschheit nicht besser dran ohne Religion? Welches Verhältnis haben Glaubensgewissheit und Fanatismus, religiöse Leidenschaft und der Hang zu Gewalt?

Mir scheint es eine der grundlegenden Absichten der Religionen zu sein, die geradezu ursprüngliche Neigung zur Gewalt, die anscheinend in der Natur des Menschen liegt, einzudämmen. Schon die Autoren der Schöpfungsgeschichte und der Ursprungsmythen der Menschheit schreiben in die ersten Kapitel der Bibel: Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, wird unter den besonderen Schutz Gottes gestellt, damit er nicht seinerseits erschlagen wird. Siebenfache Rache wird dem angedroht, der sich an ihm vergreift, den Gott mit seinem Mal gezeichnet hat.

Ein Jahrhundert später droht sein Nachkomme Lamech seinen Gegnern bereits siebenundsiebzigfache Vergeltung an. Die Wertschätzung der eigenen Person und der eigenen Sippe und die gefühlte Verpflichtung, die eigene Ehre, die eigene Sicherheit, die eigene Macht und Autorität gegen Feinde und Widersacher zu verteidigen, führte zu einem immer mehr um sich greifenden Zwang, auf Angriffe mit exzessiver Gewalt zu reagieren. Der berüchtigte Satz von der Blutrache hat die Intention, dieses Übermaß der Vergeltung auszuschließen und einen „gerechten“ Blutzoll und Ausgleich zwischen Menschen im Rechtsstreit zu ermöglichen. „Du sollst geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß…“

Erst sehr viel später (und unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen) entstand im Judentum die ultimative Forderung an die glaubenden Menschen: „Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen (…) und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Im Zusammenhang mit der breiten Anerkennung des Monotheismus wurde Gott nicht länger als Schutzherr und Führer eines einzigen Volkes gesehen, sondern in ihm der Ursprung der gesamten Schöpfung und der Herr über alle Menschen erkannt. Glaubensgehorsam konnte sich darum nicht mehr im Krieg gegen die Heiden verwirklichen, denn auch sie waren Geschöpfe Gottes; weil er auch sie leiten und führen konnte.

Die politische Moralvorstellung blieb dabei doch dem verhaftet, was im bürgerlichen Zusammenleben in den Städten sich als praktikabel erwiesen hatte: denen zu helfen, die einem Gutes erwiesen hatten; und die zu bestrafen, die einem Unrecht taten. „Schalom“, Frieden war nicht der bedingungslose, Ungerechtigkeit ertragende und in der Unterdrückung aushaltende Frieden, den die Pazifisten in allen Ländern predigten und zu leben versuchten; Frieden war ein aggressionsfreies Zusammenleben zwischen den Menschen, das möglich wurde durch den erkämpften und immer wieder neu zu gestaltenden Zustand des gerechten Ausgleichs, in dem jeder bekam (oder erwerben und behalten konnte), was er sich erarbeitet hatte, was er zum Leben brauchte, was ihm von Rechts wegen zustand. Dieser Friede muss durchaus durch Anstrengungen erworben und erhalten werden, manchmal sogar erkämpft…

Ein höherer Anspruch an das gemeinsame Leben wurde zum Beispiel durch das Wort vermittelt, das Luther mit „Eintracht“ übersetzt: „Siehe, wie fein und wie lieblich ist es, wenn Brüder in Eintracht beieinander sind…“ Hier steht über dem selbstverständlich vorausgesetzten gerechten Umgang miteinander auch das gemeinsame Wollen, das gemeinsam angestrebte Ziel der Handelnden, die „einträchtig“ an einem Strang ziehen.

Es wird deutlich, dass gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, welch dramatischer, skandalöser Anspruch es also war, die Jesus an die Seinigen stellte, als er diese Eintracht über den Kreis der Familie und der engen Gemeinschaft seiner Jünger hinaus verlangte: „Liebet eure Feinde, segnet die, die euch verfluchen, und tut Gutes an denen, die euch hassen.“

Aus meiner Predigt am 18. Oktober in der Kirche von Schönefeld

… Seltsamerweise wird gerade „von der Kirche“ noch erwartet, dass sie für „Werte“ und „Moral“ einsteht. Von den Pfarrerinnen und Pfarrern wird erwartet,  dass sie vorbildhaft leben, dass man zu ihnen aufsehen kann, dass sie irgendwie „heiliger“ sind als normale Menschen,  auch wenn nie ganz klar wird,  worin diese Heiligkeit, diese besondere Frömmigkeit bestehen könnte.

(Selbst hier in meinem Blog werde ich von manchen Zeitgenossen ziemlich rüde angetrollt, dass es doch eine Schande sei, was für belangloses Zeug ein Pfarrer schreibt; davon hätte doch  dieses Land / die Christenheit / unsere Kirche gar nichts… Diese Zeitgenossen haben aber leider nicht einmal den Mut,  mit ihrem Namen bzw. mit einer EMail-Adresse für ihre Meinung einzustehen,  darum werden ihre Kommentare hier auch nicht veröffentlicht.)

Manche Eltern melden ihre Kinder mit dieser Begründung zum Konfirmandenunterricht an „Sie sollen die Gebote lernen, was richtig ist und was falsch …“; Wissenschaftler erwarten von Theologen begründete Meinungen zu Themen wie Gentechnik oder therapeutischem Cloning, und bei Talkshows werden auch immer wieder Pfarrer eingeladen, die in der allgemeinen Gleichgültigkeit eine Richtung weisen sollen.

Wieso gerade die Kirche? Weil sie vielleicht doch noch mehr als andere etwas davon weiß, dass der Mensch nicht nur mit selbstgemachten Regeln leben kann? Sie weiß, dass die Christenheit auch das Gebot Gottes braucht. Das Gebot Gottes im alten, ursprünglichen Sinn: Als Offenbarung der Liebe Gottes. Ich stelle dich in das helle Licht und öffne dir die Augen: Dies ist der Weg, den sollst du gehen.

Wie stehen wir dazu? Der Weg ist schmal zwischen engstirnigem Fundamentalismus auf der einen Seite und einer orientierungslosen moralischen Beliebigkeit auf der anderen, zwischen einer Gesetzlichkeit, die immer ganz genau den anderen vorschreiben will, was denn der eigentliche Wille Gottes sei und einer regellosen Freiheit, die sich ohne jede Grenze in einem weiten Feld verliert, ohne Richtung, Ziel und Sinn.

Achselschweissentlüftungsklappe

Es war ein weiter, weiter Weg vom “Ostfriesen-Nerz”
zur modernen “Funktions-Outdoor-Bekleidung”.

Als ich noch Kind war, vor gut vierzig Jahren, sind wir bei Regen einfach mit Gummistiefeln und einem gelben Gummimantel rausgegangen. Der war dann bald von innen und von außen nass, von außen vollgeregnet und von innen nassgeschwitzt.

“Ölzeug” oder “Regenjacke” hat man diese Mäntel auch genannt; es war eigentlich Arbeitskleidung für Matrosen, Fischer, Bauarbeiter und andere Leute, die bei Regen unbedingt draußen sein müssen. Aber für Kinder waren die Wetterjacken auch ganz praktisch.

Zum ersten Mal war ich 1974 an der Nordsee. Es war eine Klassenfahrt mit der Grundschule nach Carolinensiel. Wir haben immer Kaloriensiel gesagt und fanden das witzig, damals. Die Jugendherberge, in der wir gewohnt haben, gibt es heute noch. Und auch die alte Mühle steht noch an der Landstraße…

Zu dem Programm, das die Lehrerin damals für uns vorbereitet hatte, gehörte eine Kutterfahrt zur Insel Langeoog. Auf der Rückfahrt von der Insel wurden die Schleppnetze für eine Viertelstunde ins Wasser gelassen, und so konnten wir dann jede Menge Muscheln, Krebse und anderes Gewürm aus dem Meer bewundern und die Möwen damit füttern…

Auch eine Wattwanderung gehörte zu den Erlebnissen, die wir auf dieser Klassenfahrt gemacht haben. Wir sind durch einen Pril gewatet, haben Wattwürmer ausgegraben und über das Wunder von Ebbe und Flut gestaunt. Was ist das für ein Meer, in dem fast die Hälfte der Zeit gar kein Wasser ist?

Das Wetter war schlecht und wir mussten oft in der gelben Regenjacke raus. Damals hörte ich das Wort “Friesennerz” zum ersten Mal.

Letztens musste ich mir eine neue Regenjacke kaufen. Die alte, blaue Sport-Regenjacke war nach zwanzig Jahren doch so undicht geworden, dass ich mich damit nicht in den Dauerregen im Urlaub auf Baltrum wagen wollte.

Aber ich war doch etwas verblüfft, dass man heute eigentlich nur noch High-Tech zum Anziehen bekommt: genäht aus atmungsaktiven Gewebeverbindungen, die die feuchte Luft hinauslassen und trotzdem regendicht sind, überall sind Reißverschlüsse und verschweißte Nähte an der Jacke, verschließbare Klappen hier und dort und da und sogar unter den Achseln, dann auch noch ein kleines wasserdichtes Täschchen am Kragen, in das der MP3-Player passt, damit man beim Wandern im Nordseesturm die passende Musik hören kann…

Natürlich gehört zu einer Klassenfahrt auch die eine oder andere Fete. Es gab Musik von Smokie und Status Quo, Sweet und den Bay City Rollers, ganz altmodisch aus einer Musikbox mit hundert Schallplatten darin, und wir mussten immer Nummern drücken und haben dann zugesehen, wie die Platte von einem “Roboterarm” aus dem großen Stapel genommen wurde und auf den Plattenteller gelegt wurde, und dann sind wir zur Musik herumgehüpft, bis das Herz klopfte. Wir haben Chips und Popcorn gegessen und Limo getrunken, und noch hat niemand heimlich geraucht oder in einer dunklen Ecke geknutscht. Mit elf Jahren hat man damals so etwas noch nicht gemacht.

Aber ich habe meinen ersten (und eigentlich auch einzigen) Liebesbrief damals bekommen. Am Abend vor einer der Feten bekam ich einen zusammengefalteten Zettel von einem Mädchen aus der Parallelklasse in die Hand gedrückt, auf dem standen die klassischen Zeilen:

Hallo Richard!
Willst Du mit mir gehen?

Kreuze an:
O Ja – O Nein – O Vielleicht

Liebe Grüße Ramona.

Ich kannte Ramona vom Sehen, aber ich konnte mir absolut nicht vorstellen, dass sie verliebt in mich war. Als ich ihr den Zettel zeigte, wusste sie auch sofort, dass ihr da eine Freundin einen Streich spielen wollte. Ich habe ihr dann vorgeschlagen, dass wir den Spieß einfach umkehren könnten: Ich würde den ganzen Abend mit ihr tanzen und wir würden den anderen das verliebte Paar vorspielen, dann wären die Freundinnen bestimmt sehr verwirrt. So haben wir es dann auch gemacht und haben uns den ganzen Abend über die verwunderten Augen und das aufgeregte Getuschel von Ramonas Freundinnen amüsiert.

So blieb der einzige Liebesbrief, den ich jemals bekam – eine Fälschung.

Eine moderne High-Tech-Funktions-Regenjacke trägt man nicht einfach so (nach Mordor… ), man braucht auch das passende High-Tech-Outfit für drunter und drüber: Funktions-Unterwäsche, die die Luftzirkulation unterstützt, Funktions-Sport-Strümpfe, die beim Laufen die Venen im Bein massieren, Funktions-Kopfbedeckungen, die windschnittig sind und die Phantasie und Erfindungsgabe des Kopfes, auf dem sie sitzen, stimulieren… Man kan leicht ein halbes Monatsgehalt für ein solches Outdoor-Outfit ausgeben und sieht dann beinahe aus wie ein Astronaut aus einem Science-fiction-Film, dick und wetterfest, aber in leuchtenden Warnfarben, damit man in der grauen Nordseelandschaft auch auffält mit der teuren Montur… Wer hat uns denn versprochen, dass es billig ist, in den Urlaub zu fahren?

Gerade in der Woche, in der ich mit meiner und der Parallelklasse in Carolinensiel war, wurde mein Bruder geboren. Meine Mutter schickte mir eine Karte in die Jugendherberge, auf der stand, dass S. “das Licht der Welt erblickt” hat und dass es ihr und meinem kleinen Bruder gut geht. Ich war so stolz, jetzt ein “großer Bruder” zu sein, und ich hab vor lauter Freude für alle Klassenkameraden ein Eis ausgegeben – für jeden eins, insgesamt dreißig Eis am Stil… Damit war dann fast das ganze Taschengeld, das wir damals mitnehmen durften, verbraucht. Jedesmal, wenn ich jetzt im Urlaub an der Nordsee durch Carolinensiel fahre, kommt mir diese Woche wieder sehr lebendig ins Gedächtnis.

Jetzt ist mein Bruder über vierzig, reist beruflich in der ganzen Welt herum und sieht Dinge, die ich wahrscheinlich nie im Leben sehen werde. Aber in Carolinensiel war er noch nicht.

Es regnet im Pfarrhaus – Probleme am Bau

Manchmal regnet es rein. Jeder, der ein Haus mit Flachdach hat, kennt das. Es gibt keine Erklärung dafür, denn eigentlich ist das Dach völlig in Ordnung. Nur wenn der Wind exakt aus Süd-Südwest kommt, mit mindestens Windstärke fünf, und wenn dann noch weniger als fünfzehn Grad sind, dann regnet’s durch.

Es kommt nur zwei bis drei Mal im Jahr vor, dass alle diese Bedingungen eintreffen, aber wenn das Wasser dann mal durch die Decke läuft, dann richtig heftig: Es tröpfelt nicht nur, es läuft in Strömen an der Wand entlang, rinnt über die Jalousien vor den Fenstern, durchnässt die Gardinen und füllt die hastig aufgestellten Eimer im Viertelstundentakt. Es ist so, als wäre da gar kein Dach.

Wenn der Wind aber nur ein bisschen dreht, ist auf einmal wieder alles in Ordnung. Nach ein paar Stunden sind die Wände wieder trocken, nur auf den Lamellen der Jalousien bleibt ein interessantes Muster, das an die Batik-T-Shirts erinnert, die die Mädchen in Woodstock trugen, und das kriegt man dann auch mit viel Putzen nicht mehr weg…

Nun ja, man könnte damit leben. Man kann aber auch die Dachdecker rufen, damit die das in Ordnung bringen. Dann wird es richtig unerträglich.

— ooo —

Am Ostermontag war es wieder mal so weit. Natürlich – nach der anstrengendsten Woche des Jahres, gerade dann, wenn man meint, sich endlich einmal ausruhen zu können und sich auf ein paar ruhige Tage freut…

“So geht das nicht weiter!” sagt meine liebe Frau, “Ich sag dir doch seit Jahren, lass endlich das Dach in Ordnung bringen! Andauernd regnet’s durch, schau dir mal meine schönen Jalousien an, wie sieht das denn aus, und die sind doch erst fünf Jahre alt, und das Laminat auf dem Boden erst… Du hast doch morgen frei und sonst ist in der Woche auch wenig los, also kümmere dich endlich drum und mach was!”

Vergeblich versuche ich zu erklären, dass zwei bis drei Mal im Jahr eine völlig normale Tröpfelquote für ein Zimmer unter einem Flachdach sind, das die Jalousie durch so ein hübsches Batikmuster nur gewinnt und das Laminat doch immer noch wie neu aussieht, gerade wo doch so schön nass aufgewischt ist… Und auch das Argument, dass man an einer ziemlich gut funktionierenden Konfiguration besser nichts ändert, hat nicht gezogen – naja, ihren letzten Laptop hat sie ja auch schon mal gründlich durcheinander gebracht…

Umsonst! In einer schlaflosen Nacht überlege ich also, was man eigentlich braucht, um so ein Dach regendicht zu machen; welche Dachdecker eventuell hilfreich sein könnten, ob die wohl mit einer Leiter klarkommen oder ob man auch Gerüstbauer bestellen muss, und schließlich falle ich in einen unruhigen Schlaf. Ich träume von Außerirdischen, die aus fliegenden Untertassen heraus mit dünnen Laserstrahlen Löcher in die Decke bohren, von Tropfsteinhöhlen, in denen das Wasser von jahrtausendalten Stalagtiten tropft, von Wasserfällen, die plätschern und rauschen und von Talsperren, durch deren Überflußkanäle tosend und donnernd ganze Ströme in das Tal stürzen – und ich werde wach, nass von Schweiß, und es tropft schon wieder am Fenster.

Am nächsten Morgen fällt mir ein, dass das Pfarrhaus ja der Kirchengemeinde gehört und dass diese darum für alle Baumaßnahmen zuständig ist. Dafür hat sie auch einen Bauausschuss, besetzt mit motivierten und kompetenten ehrenamtlichen Mitarbeitern, die sich bestimmt gerne darum kümmern werden, dass es ihrem Pfarrer nicht mehr ins Ehebett regnet.

Zum Glück trifft sich der Bauausschuss auch schon am Donnerstag, da kanns ja nicht mehr lange dauern, bis das Dach dicht ist.

Sobald die liebe Frau aus dem Haus ist, werde ich mich an den Computer setzen, um einen passenden Antrag zu schreiben…

— ooo —

Vier Stunden später sagt mir mein Computer, dass in “Sim City” jetzt mehr als zwei Millionen Einwohner leben und ich mir als Bürgermeister jetzt eine Goldene Statue auf dem Marktplatz bauen darf – aber der Brief an den Bauausschuss ist immer noch nicht fertig. Warum kann man so ein blödes Dach nicht einfach so wegklicken und neu hinsetzen wie in dem Spiel, wo man ganze Häuserzeilen einfach wegklickt, und schon ist Platz für die Statue und einen Park…

Muss ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben? Nicht wegen der Sims, die jetzt obdachlos sind, sondern wegen dem Brief, der noch nicht geschrieben ist?… Egal, heute ist schließlich mein freier Tag, und bei drei Millionen Einwohnern gibt es eine Plakette aus Platin für den Bürgermeister, das muss doch zu schaffen sein…

— ooo —

Abends fragt mich meine Frau nach dem Brief, und es begeistert sie nicht wirklich, meine schöne, ausgeklügelte und vor Leben strotzende Stadt zu sehen, deren Flachdächer bestimmt alle neunundneunzig Prozent der Zeit dicht sind, außer wenn der Wind von Osten kommt, wo der Flughafen der City liegt.

Am Donnerstag ist Bauausschuss, und während die motivierten und kompetenten Damen und Herren zusammen sitzen, tippe ich schnell einen Brief, in dem sinngemäß steht: “Bei mir regnet’s rein, bitte macht irgendwas!” Gerade noch rechtzeitig liegt der Brief auf dem Tisch der Ausschussmitglieder, die dann beschließen, eine Dachdeckerfirma zu beauftragen, sich das Dach mal anzusehen…

— ooo —

Am Dienstag nach dem Pfingstfest – ich lag noch im Bett, weil ich mich nach der anstrengendsten Woche des Jahres endlich mal wieder ausschlafen wollte – klingelte es um Punkt sieben an der Tür. Im Schlafanzug und Morgenmantel öffne ich die Tür, und da steht der Chef der Dachdeckerei Namehier-Einsetzen GmbH&Co. KG mit einem kaugummikauenden Hiwi. “Guten Morgen,” sagt er mit einem französischen Akzent, der mich fatalerweise an Louis de Funes erinnert, den ich noch nie wirklich gut leiden konnte. “Guten Morgen, wir wollen ihnen ihr Dach ansehen…”

Ich gebe den beiden meinen Kaffee, der in der Küche aus der Kaffeemaschine geblubbert war (wir haben so ein tolles Dings mit eingebauter Uhr, das mit einer Wahrscheinlichkeit von neunzig Prozent zur vorher eingestellten Zeit automatisch Kaffee macht (und mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent überläuft, bis das üble Gemisch aus Wasser und Kaffeepulver über die Arbeitsfläche in die Besteckschublade rinnt…)), ziehe mir schnell etwas Präsentableres an, rasiere mich kurz aber heftig und putze mir die Zähne. So – zu nachtschlafender Zeit schon als Mensch verkleidet – frage ich die beiden, wie es jetzt weiter geht.

“Wir müssen auf Dach,” sagt der Chef auf französisch, “aber die Leiter, die wir mitgebracht ‘aben, ist zu kurz. Ist drei Meter, brauchen aber vier. Sie ‘aben doch sicher lange Leiter irgendwo in der Kirche?”

Ja, haben wir, aber die ist seit acht Jahren nicht mehr benutzt worden. Sie hängt an der Wand im unteren Parkdeck, wo die Friedhofsbesucher parken, wenn auf dem normalen Parkplatz mal wieder alles mit den Autos der Mitarbeiterinnen der Diakoniestation vollgestellt ist. Die Leiter ist dort fest angeschlossen mit Kette und Vorhängeschloss, damit niemand sie klaut. Und wo war noch mal der Schlüssel?

Ich tappse immer noch müde, weil ohne Kaffee, ins Gemeindebüro, wo in einem Tresor alle Schlüssel hängen, die nur selten gebraucht werden. Eigentlich sind sie ordentlich beschriftet, aber ich kann den richtigen Schlüssel nicht finden. Auch nach einer halben Stunde nicht…

Die Dachdecker essen inzwischen meine Croissants (die hab ich mir vom Pfingstfrühstück aufgehoben und wollte sie heute aufbacken; als ob ich etwas geahnt hätte!) und ich klingele den Vertreter des Bauausschusses aus seiner Wohnung und von seinem Frühstückstisch weg – zum Glück wohnt er direkt auf dem Gelände – aber er weiß auch nicht, wo der Schlüssel sein könnte.

Inzwischen ist es nach acht, die Gemeindesekretärin fährt mit ihrem Auto auf den Parkplatz, und auch unser sehr lieber Hausmeister ist inzwischen da und hilft fleißig beim Suchen. Statt des Schlüssels findet er einen Bolzenschneider, so ein richtiges Einbruchswerkzeug, mit dem man auch jemanden tot schlagen könnte, die nötige kriminelle Energie vorausgesetzt.

Zu fünft stehen wir nun auf dem unteren Parkdeck und versuchen, das Vorhängeschloss mit dem Bolzenschneider zu öffnen. Ich muss aber den Produzenten der Firma Ab*s meine größte Hochachtung aussprechen, denn ihr Produkt hat diesem brutalen Angriff wie so manchem anderen auf die Sicherheit der deutschen Kellertüren, Gartenlauben, Fahrradständer und Verschlussketten grandios widerstanden. Was so ein Vorhängeschloss alles aushält! Der Gedanke, der mich sonst ungemein beruhigt hätte, steigerte in diesem Moment nur meine Nervosität, denn die Dachdecker sind nun schon zwei Stunden da, die sie bezahlt bekommen müssen, und sie haben noch nichts vom Dach gesehen…

Schließlich holt der Bauausschussvorsitzende eine “Flex” von seinem Dachboden, so ein richtiges Männergerät, das groß und schwer ist, einen Riesenkrach macht und es endlich mit viel Funkengesprüh und dem höllischen Geruch einer heißen Diamant-Trennscheibe schafft, dem tapferen Vorhängeschloss den Bügel zu durchtrennen.

Dafür verbrennt sich dann Mr. Bauausschuss seine Finger an eben diesem Bügel, als er die Kette durch die entstandene Lücke im Schloss ziehen will.

WIR HABEN DIE LEITER! Zu viert tragen wir sie auf das obere Parkdeck, von wo man nun bequem auf das Dach steigen kann. Was es da zu sehen gibt, gefällt Herrn Namehier-Einsetzen von der gleichnamigen GmbH&Co. KG gar sehr, denn es gibt viel zu tun. War eigentlich klar, denn hier oben ist seit dreißig Jahren nur ausgebessert und geflickt worden, aber nie wirklich renoviert. Das scheint jetzt aber wirklich fällig zu sein. Der Meister schreibt jedenfalls eine lange Liste in seine Kladde, während er mit seinem Hiwi übers Dach läuft, hier an einem Stück Teerpappe zerrt, dort an einer Isolierung zieht und an manchen Stellen ausgiebig mit einem Kugelschreiber in Abluftöffnungen bohrt.

“Muss alles neu gemacht werden, von hier bis da.” sagt er schließlich, “da geht gar nichts mehr anders. Dach ist ziemlich kaputt, und muss auch isoliert werden. Hat man nicht so gemacht vor dreißig Jahren.”

Wir klettern wieder vom Dach herunter und verstauen die Leiter in ihrer Halterung auf dem unteren Parkdeck. Es ist schon beinahe Mittag und ich bin immer noch hungrig und müde, nur notdürftig gewaschen. Naja, jetzt lohnt es sich wenigstens.

“Wir werden ihnen machen ein Angebot” sagt der französiche Dachdeckermeister, “das sie werden nicht ablehnen können. Werden sie ‘aben nächste Woche.” und verabschiedet sich mit seinem jungen Hiwi.

Ich sehe mit sorgenumwölkter Stirn hinauf zu meinem Dach. Da kommt die Gemeindesekretärin freudestrahlend aus dem Gemeindebüro gelaufen: “Hallo? Ich habe den Leiterschlüssel gefunden!”….

— o o o —

An diesem Montagmorgen um halb sieben fühle ich mich nicht sehr gut. Ich wache benommen auf, schlurfe benommen in meinem Zimmer herum, mache ein Fenster auf, sehe den Pritschenwagen des Dachdeckers, finde meine Pantoffeln und schlurfe ins Badezimmer.

Zahnpasta auf die Zahnbürste – so. Bürsten.

Rasierspiegel – zur Zimmerdecke gedreht. Ich stelle ihn richtig ein. Einen Augenblick lang spiegelt er durchs Badezimmerfenster zwei Dachdecker wider, die eine lange Leiter von einem Pritschenwagen abladen. Richtig eingestellt spiegelt er meine Bartstoppeln wider. Ich rasiere sie weg, wasche mein Gesicht, trockne es ab und schlurfe in die Küche, wo ich das Frühstück vorbereite, während meine Frau ihre Zähne putzt und alles tut, was Frauen so morgens im Badezimmer tun…

Teekessel, Stecker, Kühlschrank, Milch, Toast… Gääääähnen.

Einen Augenblick lang geht mir das Wort „Dachdecker“ im Kopf herum, es sucht nach einer Gedankenverbindung. Irgendetwas rumpelt im oberen Stockwerk oder vielleicht noch ein bisschen weiter oben… Ich sehe durch das Küchenfenster, dass eine Leiter an die Mauer gelehnt ist, ganz schön hoch, ich würde da nicht raufklettern.

Ich starre sie an. „Ganz schön hoch…“, dachte ich und schlurfe ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen.

Als ich im Flur vor dem Schlafzimmer stehe, sehe ich, wie die Katze mißtrauisch zur Decke starrt. Was hat die nur? Warum guckt sie so irritiert? Ich kratze mich am Kopf, immer noch bin ich todmüde. Das Wochenende war hart, aber nächste Woche habe ich Urlaub. Die Woche vor dem Urlaub ist immer knochenhart, ich muss vorarbeiten, damit es nicht so auffällt, wenn ich drei Wochen weg bin. „Ganz schön hoch…“, denke ich und öffne die Tür.

Zwischen meinen Beinen wutscht die Katze mit einem triumphierenden Schrei ins Zimmer und unter das Bett, wo sie zufrieden schnurrt, weil sie weiß, dass dieses Zimmer für sie tabu ist; sie weiß aber auch, dass ich vor sieben nicht die Energie aufbringen werde, sie wieder unter dem Bett hervor zu ziehen und rauszuwerfen…

Ich stehe vor dem Kleiderschrank und denke nach. Gestern, nach dem Gottesdienst, hat der Vorsitzende des Bauausschusses irgendetwas zu mir gesagt, das wohl wichtig war. Ich weiß noch, dass ich mich geärgert habe. Ich mag es nicht, wenn mir in der letzten Woche vor dem Urlaub noch irgendwelche wichtigen Termine aufs Auge gedrückt werden. Aber was ich mag oder nicht mag, interessiert in der Gemeinde kaum jemanden. Vor allem dann nicht, wenn Handwerker involviert sind.

Ich schaue in den Spiegel, betrachte die Hose, die beim letzten Waschen wieder etwas eingelaufen ist, sehe, wie der Saum über dem Fußboden schwebt… „Ganz schön hoch…“, denke ich. Ich sollte das wirklich besser meine Frau machen lassen. Die Worte „Ganz schön hoch“ gehen mir im Kopf herum und suchen nach einer Gedankenverbindung…

Fünfzehn Sekunden später kommt meine Frau im Bademantel durch die Tür und fragt entrüstet: „Wieso reißen da zwei Typen das Deckenfenster aus unserem Dach?“

(Wer weiß, von welchem Text diese einführenden Abschnitte inspiriert sind, ist ein hoopy Frood,
der echt original weiß, wo sein Handtuch hängt…)

Ich verabschiede mich innerlich von dem Gedanken, dass dies ein schöner Tag werden könnte, sowie von der Hoffnung auf eine entspannte Vor-Urlaubs-Woche… Ich erkläre meiner Frau, dass die Dachdeckerfirma Namehier-Einsetzen ganz kurzfristig einen Termin für unsere Dachsanierung einschieben konnte, und dass der Vorsitzende des Bauauschusses mir aber erst gestern Bescheid gesagt hat, dass… – und dass deshalb jetzt die Leute auf dem Dach sind und das Fenster herausreißen, weil das gleich mit ersetzt wird.

„Aber sie machen doch Dreck und wir fahren doch in den Urlaub und wann wollen wir packen und werden die rechtzeitig fertig und wann kommen die Maler und wieso hast hast Du nicht früher was gesagt?“ fragt meine Frau in einem Atemzug, während mein Herz zu klopfen beginnt und mir Schweißperlen auf die Stirn treten… Weiß ich auch nicht, warum ich nicht früher was gesagt habe; ich versuche, die Gedanken an aufwändige Baumaßnahmen immer so weit wie möglich in die hinterste Ecke meines Gehirndachbodens zu verkramen, und manches bleibt dann auch – hm… – verkramt. Das ist so, und Du hast mich trotzdem geheiratet.

Jedenfalls stehe ich kurz darauf draußen neben der Leiter, während meine Frau frühstückt, und verhandle mit dem Louis-de-Funes-Meister darüber, das sie doch bitte ganz pünktlich mit den Bauarbeiten fertig werden möchten, besonders das Fenster so bald wie möglich wieder einsetzen, weil Regen angesagt ist, und dass sie auch darauf achten, dass kein Dreck in unsere Wohnung gelangt, weil wir schon alles geputzt haben an diesem Wochenende, weil wir nächstes Wochenende in den Urlaub… „U’laub, tschja,“ sagt der Dachdeckermeister, „U’laub tät isch ja auch mal gerne ‚aben wollen…“ Aber er verspricht mir alles…

Als ich das dann meiner Frau berichte, bekomme ich eine Kopfnicken, eine Tasse Tee, und dann muss sie los zur Arbeit. Ich sitze in meinem Büro, versuche die Texte für den neuen Gemeindebrief zu schreiben, und unterbreche immer wieder irritiert: Es kratzt, rumms, knarrt und rumpelt auf dem Dach, und obwohl ich weiß, dass alles in Ordnung ist, bleibt mein Unterbewusstsein in Alarmbereitschaft. Das muss so ein Relikt aus Steinzeit-Zeiten sein, in denen es überlebensnotwendig war, dass Männer nervös und unruhig wurden, wenn Mitglieder einer fremden Sippe anfingen, neben dem Höhleneingang mit Speeren herumzukratzen oder auf dem Höhlendach mit schweren Steinen zu rumpeln…

Nach fünf Stunden mit erhöhtem Adrenalinspiegel halte ich es nicht mehr aus, verziehe mich zuerst in die Pizzeria und mache dann einen Hausbesuch. Kurz vor vier bin ich wieder zu Hause, da packen die Hiwis von Herrn Namehier-Einsetzen gerade wieder die Leiter auf den Pritschenwagen. Für heute sind sie fertig, sagen sie, morgen kommen sie um sieben wieder. „Mitten in der Nacht,“ denke ich, „aber dafür sind sie schneller fertig.“

Ich gehe hoch ins obere Stockwerk und schaue mal nach, das Deckenfenster ist ordentlich mit Plastikfolie zugeklebt, es sieht so aus, als ob das Provisorium auch einen leichten Landregen überstehen würde. Der Staub im Flur hält sich in Grenzen, ich fege kurz durch und gehe dann noch mal mit dem Staubsauger durch. So müsste es eigentlich auch meine Frau akzeptieren können. Nur komisch riechen tut es, irgendwie nach Teer oder Öl, aber das muss wohl von den Dachpappen kommen, die die Hiwis abgemacht haben und die jetzt draußen vor dem Haus auf dem Parkplatz liegen…

Später kommt meine Frau von der Arbeit, hängt ihren Mantel an den Haken, geht nach oben gucken, fegt, staubsaugt und wischt noch einmal durch den Flur (wieso mach ich das eigentlich immer wieder, ich kenne das Spiel doch schon…), und dann essen wir. Während ich abwasche, tönt von oben erst ein spitzer Schrei und dann ein lautes Schluchzen durch die Wohnung…

Ich laufe mit schreckgeweiteten Augen nach oben, da sehe ich meine Frau im Schlafzimmer stehen und sehe auch, warum es da so komisch riecht: Aus der Ritze über dem Fenster, wo die Gardinen aufgehängt werden, ist eine dicke schwarze Ölmasse gelaufen, an der Jalousie mit dem Batikmuster herunter, auf den Teppich und auf das Laminat, das da verlegt ist; es sieht schrecklich aus und es riecht wie im Heizungskeller direkt neben dem Öltank…

In der Dachdeckerei ist niemand mehr zu erreichen; und der Architekt sagt, er kommt gleich am nächsten Morgen, um sich das anzugucken. Meine Frau ist wie erstarrt, sie tut mir so leid… Auf die Schilderung von Tränen, Vorwürfen, Streit und Versöhnung verzichte ich hier, jedenfalls sind wir mit unseren Bettdecken ins Wohnzimmer umgezogen und haben da geschlafen, zum Glück zusammen…

Am nächsten Morgen um sieben kommen die Dachdecker, und ich zeige ihnen die „Bescherung“ im Schlafzimmer… „Ach, sowas kommt schon mal vor…“ versucht mich einer der Hiwis zu beschwichtigen, „das kriegen wir mit ein bisschen Verdünnung wieder weg, und schon in drei Wochen können sie wieder in dem Zimmer schlafen, dann riechen sie kaum noch was…“ Na, Klasse! Wie beruhigend!

Eine Stunde später kommt auch der Meister, ihm ist es doch etwas peinlich. Ich höre, wie einer der Arbeiter ihm gesteht, dass er am Tag vorher einen Eimer mit Bitumenklebstoff um gestoßen hat, aber sie haben nicht damit gerechnet, dass etwas von dem Zeug in die Wohnung gelaufen sein könnte. Wie denn auch, wo wo sie doch nur gerade vorher die ganze Isolierung über der Schlafzimmerdecke vom Dach gerissen haben…

Meine Frau geht zur Arbeit, und ich verhandle mit dem Dachdeckermeister über Schadenersatz. Um fair zu sein – er ist sehr kooperativ, er bietet an, das Zimmer auf seine Kosten neu streichen zu lassen. Den Teppich und die Jalousien nimmt er mit – er will versuchen, sie reinigen zu lassen. Und das Laminat kriegt einer der Hiwis tatsächlich mit Verdünnung wieder sauber, hätte ich nicht gedacht. Am Nachmittag kommt dann auch der Architekt und empfiehlt uns, regelmäßig zu lüften… Prima, wär ich nicht drauf gekommen. Aber der Gestank bleibt; und wir schlafen für den Rest der Woche im Wohnzimmer.

Das Fenster kommt rechtzeitig, das Dach ist pünktlich fertig, man will ja nicht nur meckern. Trotzdem sind wir froh, dass wir in den Urlaub fahren können und alles erst mal für ein paar Wochen vergessen dürfen…

Als wir zurück kamen aus dem Urlaub, wurde das Zimmer neu gemalt, die Jalousien haben wir durch neue ersetzt, der Teppich konnte gereinigt werden und sieht besser aus als vorher. Und als es wieder mal regnete, war im Schlafzimmer und im Flur auch alles dicht. Wir waren zufrieden und haben die Rechnung bezahlt. Louis de Funes kam sogar noch einmal vorbei und schenkte uns eine Flasche Wein als Trost für den Schreck, französischen natürlich, wie passend…

Alles war gut.

Bis in die Woche vor dem Erntedankfest. Da haben Pfarrer nämlich immer besonders viel zu tun, eigentlich ist es die hektischste Woche im Jahr. Seitdem tropft Wasser durch die Decke des Gästezimmers…

Goldapfelsoße

In den ersten dreissig Jahren darf der Mensch an Geschmacksverirrungen leiden. Da darf er Brausepulver direkt aus der Tüte lecken, weisse Prickelbonbons mit Traubenzucker aus der PEZ-Box mit einem Donald-Duck-Kopf ziehen, klebrig-süße Lollies lutschen (oder dieses Zeug, das man früher in Muschelschalen aus Plastik verkauft hat), da darf er rote oder grüne „Limonade“ trinken, die eigentlich nur gefärbtes Zuckerwasser ist, und, wenn er es bekommt, saugt er Wasser-Eis aus einer durchsichtigen Plastikfolienverpackung.

Später ist man als Junge begeistert von Unsäglichkeiten wie BiFi-Salami-Wurst, Dosenravioli, Schampoo mit „Grüner-Apfel-Geschmack“ und fühlt sich wahnsinnig männlich mit Old-Spice-Rasierwasser oder Pitralon; und die Mädels tragen Patchouli oder Oilily-Parfüm, zünden in ihrem Zimmer Weihrauchstäbchen aus Indien an oder Duftkerzen, essen nur vegetarisch (schon vor dreißig Jahren!) und trinken parfümierten Tee mit Erdbeeraroma aus Blechdosen vom „Daniels-Tea-House“; danach aber rauchen sie miteinander wie ein ganzes Kernkraftwerk. Wir hörten Musik von John Denver, Al Stewart und „I’ll never be Maria Magdalena“ von Sandra, die aber genau so gut Mandy, Sabrina, Alex oder Bianca hätte heißen können… Und man braucht ja nur mal die Bilder aus den achtziger Jahren hervor kramen, dann weiß man, was für schreckliche Klamotten man damals getragen hat…

Der Gipfel meiner Geschmacksverirrungen aber waren „Miraculi-Spaghetti“ mit Tomatenmark und der „einzigartigen Gewürzmischung“ aus der Cellophanpapier-Verpackung. Im Rückblick kann ich es selbst kaum glauben, aber das Zeug hat mir vor zwanzig Jahren richtig gut geschmeckt. Ein bisschen Extra-Tomatenmark, ein bisschen Ketchup, eine Dose Mais dazu, um das Ganze etwas aufzupeppen – das war ein Genuß in der Studentenküche…

Selbst bei meinem dreißigsten Geburtstag hab ich das noch stolz meinen Freunden serviert. Den meisten hat es gut geschmeckt, das waren damals ja noch die Nerds aus dem Computer-Club, die sich gefreut haben, dass es überhaupt mal mal was Anderes als kalte Pizza vom Auslieferator gibt – doch manche meiner Freunde waren da schon verheiratet, und ich weiß jetzt, dass sie sich in diesem Moment sehr an den heimischen Esstisch und in die Nähe ihres Gewürzgartens zurück gesehnt haben.

Inzwischen weiß ich, dass man mit ganz wenig Aufwand absolut leckere Spaghettisoßen selber machen kann, aber früher mal war für mich die aufgemotzte Miraculi-Soße für mich das non plus ultra… Peinlich, oder? Dabei dauert es etwa zehn Minuten, die Miracoli-Soße zu kochen. Mindestens genau so schnell bekomme ich heute eine gute Pommodori-Soße mit Tomaten aus der Dose, frischen Kräutern, geriebenem Parmesan und Basilikum-Blättern aus Klein-Palermo zustande… Aber auch so was muss man eben erst lernen.

Nur wenn ich mal einen Abend ganz allein für mich habe und meine holde Ehefrau auswärts mit ihren „Mädels“ isst, koche ich mir manchmal das Laster meiner Jugendzeit: Spaghetti pommodori mit der Goldapfelsoße von Miracoli. Aufgemotzt mit Maiskörnern und Basilikum. Das schmeckt dann nach Freiheit und Abenteuer, nach Jugend und Revolution, nach San Francisco und Woodstock, nach Band Aid for Africa und nach dem Studentenwohnheim in Tübingen…