Geheime Superkräfte #1

Inkompetenzkompensationskompetenz

Das ist die Fähigkeit, damit klar zu kommen, dass man irgendetwas nicht weiß, oder nicht kann, oder dass man einfach schlecht vorbereitet ist.

Dann kann man natürlich sagen: Ich weiß das nicht, ich kann es auch nicht, weil ich total verpeilt bin und mich nicht vorbereitet habe. Das ist dann zumindest ehrlich, und es ist ja auch eine Art Superkraft, sich in solchen Situationen nicht raus zu reden und dazu zu stehen, dass man es gerade ziemlich vermasselt hat. Dann können alle ihre Sachen einpacken und wieder nach Hause gehen und man hat wenigstens nicht all zu viel Zeit verplempert.

Man kann aber auch frech drauf los improvisieren. Das geht erstaunlich oft gut. Wenn man selbst nicht all zu gut über irgendetwas Bescheid weiß, holt man sich Leute ins Team, die gutwillig und neugierig sind und Spaß an der Sache haben, und dann findet man gemeinsam raus, wie es funktioniert. Da lernt man sogar etwas dabei. Und es ist lustig und macht Freude.

Oder es geht schief und man fährt die Karre direkt und ohne Umwege total in den Sand. Dann hat man zumindest noch eine gute Geschichte zu erzählen.

Tag der offenen Tür – Eine Predigt zum Palmsonntag

Palmsonntag – Tag der offenen Tür

Macht hoch die Tür; die Tor macht weit…

Die Menschen in Jerusalem kannten das. Jedes Jahr wieder zog der römische Statthalter in einem Triumphzug in die Hauptstadt Judas ein. Prachtvoll aufgemacht in blitzender Rüstung, stolz und aufrecht stehend auf einem Streitwagen, um ihn herum die Soldaten, große, starke Männer, denen man ansah, dass sie Kämpfen und Siegen gewohnt waren, klirrende Schwerter an der Seite, große Schilde am Arm, auch sie alle in lederner oder eiserner Rüstung. Und vorneweg die Standarte mit den Buchstaben SPQR – der Senat und das Volk von Rom. Dieser Einzug des kaiserlichen Statthalters war eine Demonstration von Macht und Kraft, auch wenn hinter dem Mann auf dem Streitwagen ein Sklave stand, der ihm fortwährend zuflüsterte: „Denke daran, dass auch du nur ein Mensch bist!“

Gerne hätten die Bewohner Jerusalems jenes aufgezwungene Schauspiel ignoriert, aber das ließ die Besatzungsmacht nicht zu: Sie hatten dort anzutreten, mit Winkelementen und Jubelgeschrei, sonst riskierten sie, im Gefängnis zu landen. Die Römer ließen den Juden viele Freiheiten, mehr als allen anderen „befriedeten“ Völkern unter der Pax Romana, aber wenn es um Loyalität ging, verstanden sie überhaupt keinen Spaß.

Und nun kam DER. Fast könnte man es eine Karikatur, eine Parodie nennen: Der Wanderprediger aus Nazareth zog in einem Triumphzug ein in die Stadt: Statt des Streitwagens hatte er nur einen Esel, nicht die reichen Bürger der Stadt jubelten ihm zu, sondern die Armen, die Leute vom Land und die zweifelhaften und zwielichtigen Typen von den kleinen Gassen und den Ecken und Zäunen aus den Stadtvierteln, wo man besser nicht allein hin ging, wenn es abends dunkel wurde…

Viel wurde über ihn geredet, Gerüchte gingen um: Wunder hat er getan, Blinden hat er die Augen geöffnet; Lahmen hat er auf die Beine geholfen; Aussätzige von ihrer Seuche befreit. Er hatte keine Berührungsängste, wenn es um Bettler, Krüppel und Obdachlose ging, sogar mit Frauen hat er geredet, Witwen und solchen, mit denen kein anständiger Familienvater etwas zu tun haben sollte.

Manche sagten, er sei ein Aufrührer, hätte öffentlich gegen den Gottesdienst im Tempel gewettert. Klar, es gab da viel zu kritisieren, so dachten alle, aber er hatte das Gotteshaus eine Räuberhöhle genannt. Und er hat gesagt: Reißt doch den Tempel ab, in drei Tagen baue ich einen besseren auf! Das grenzte an Gotteslästerung…

Es war kurz vor dem Passahfest, darum war die Stadt voll von Menschen, und nun standen sie dicht gedrängt an der Hauptstraße, begierig, einen Blick auf diesen Menschen zu erhaschen, der sich so unangepasst und aufmüpfig verhielt: Jesus von Nazareth.

Und da kam er endlich. Durch das weit geöffnete Stadttor zog er ein. Um ihn herum seine Jünger: Fischer, Handwerker, sogar ein Zöllner. Ein paar religiöse und politische Eiferer, Zeloten. Nur wenige, die wirklich Ahnung hatten von Theologie, von der Lehre, die die Priester am Tempel verkündeten. Sie warfen ihre Umhänge auf den Boden, dass sein Esel nicht über die staubigen Steine der Strße traben musste, und viele jubelten ihm zu, riefen „Hosianna!“ und wedelten mit Palmzweigen, die sie eilig von irgendwelchen Bäumen gerissen hatten. Besonders die Kinder riefen begeistert: „Gelobt sei, der da kommt…“ Wo sie das nur her hatten? Es stand in den Heiligen Schriften, dass einst die Könige Israels so begrüßt wurden: Sie ritten auf einem Esel und die Menschen riefen ihnen zu: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, Hosianna!“ Die Römer wussten nichts davon, sonst hätten sie ihnwohl gleich wegen Hochverrats verhaftet. Aber die Priester und Schriftgelehrten wussten es. Und wohl auch die Kinder, die ihm zujubelten. Es war für sie eine fröhliche Stunde…

Warum nur schaute er so ernst?

Klagen hat seine Zeit und Tanzen hat seine Zeit…

Am nächsten Tag öffnete noch jemand seine Tür für ihn. Eingeladen war er in das Haus des Simon. Simon, der Aussätzige, so wurde er genannt, um ihn von den vielen anderen Simons, die es in seinem Viertel gab, zu unterscheiden. Kein schmeichelhafter Name. Ja, er war einmal aussätzig gewesen. Seine Krankheit lag aber schon viele Jahre zurück, und nichts war geblieben als ein paar Narben – und immer wieder mal Alpträume in der Nacht; bedrückende Erinnerungen an ein paar Jahre seines Lebens, in denen er draußen vor dem Stadttor hausen musste, allein, um niemanden anzustecken. Wenn jemand in seine Nähe kam, musste er „Unrein, unrein!“ rufen, dann wandte der sich mit Grausen ab. Soziale Distanz musste eingehalten werden, damit die Krankheit sich nicht verbreitet. Nicht einmal zum Beten in den Tempel durfte er – die Tote zu Gottes Haus blieben für ihn verschlossen. Nur seine Familienmitglieder kamen täglich, um ihm Etwas zu essen zu bringen, aber auch sie durften ihn nicht umarmen oder küssen, und oft sah er die Tränen in ihren Augen…

Ja, das war Gott sei Dank lange her, seine Klagelieder waren verstummt; aber noch immer waren die sichtbaren Narben ein Makel und brachten oft Menschen dazu, erschrocken zurück zu weichen. Immerhin hatte er jetzt wieder ein Haus in der Stadt, einen eigenen Brunnen und ein großes Zimmer, wo er mit seinen Freunden essen konnte. Nun hatte er auch Jesus und seine Jünger eingeladen, und es gab ein gutes, reichhaltiges Mahl.

Jesus wurde ziemlich oft eingeladen. Manche Gastgeber wollten sich schmücken mit dem Besuch des Wundertäters und Skandal-Rabbis aus Nazareth, andere waren an seiner Lehre und seinem Bekenntnis wirklich interessiert, und wieder andere gehörten zu seinen Jüngern, wenn auch nicht zum engsten Kreis, denn er hatte nicht nur arme und mittellose Verehrer.

Und Jesus feierte gern. Es passte scheinbar nicht zu seiner Predigt, aber er wusste gutes Essen und einen süßen Schluck Wein durchaus zu schätzen. Seine Feinde warfen ihm sogar vor, ein Fresser und Weinsäufer zu sein. Wenn man ihn darauf ansprach, sagte er oft: „Wenn der Bräutigam da ist, gibt es Grund, zu feiern. Es wird eine Zeit kommen, in der der Bräutigam fehlt, dann könnt ihr fasten und trauern.“

Wer aber war die Braut?

Der Duft der großen, weiten Welt…

Jesus lag also zu Tisch im Haus des Simon, des Aussätzigen. Damals saß man nicht auf Stühlen oder Hockern beim Essen, man lag bequem auf einer Couch und ließ sich das Essen gut schmecken. Zwischen den Gängen wurden Neuigkeiten ausgetauscht, Aktuelles und Grundsätzliches diskutiert, manchmal auch gestritten, je nachdem…

Da kam plötzlich eine Frau in den Raum, in dem die Gäste waren. Sie ging auf Jesus zu, sank neben seiner Liege auf ihre Knie. Die Frau zog ein schneeweißes Gefäß aus ihrem Kleid, feinster Alabaster. Darauf in glänzendem Rot und Gold das Siegel der besten Parfümerie der Stadt. Die es sahen, hielten den Atem an, als sie mit einer raschen Handbewegung das Gefäß zerbrach und sich ein wunderbarer Duft ausbreitete. Nardenöl, das Kost-barste, was es in Jerusalem gab, nur die Frauen der Fürsten und der reichsten Kaufleute trugen so etwas. Die Alabasterflasche musste mindestens dreihundert Sesterzen gekostet haben, dafür musste ein Tagelöhner ein ganzes Jahr arbeiten, auch die römischen Legionäre bekamen im Monat nicht so viel Geld.

Die Frau strich das kostbare Öl über Jesu Haare, massierte es mit ihren langen, schmalen Fingern ein. Streichelte über seine dunklen Locken. Strich ihm beinahe zärtlich über die Stirn, verteilte das Öl in seine Schläfenlocken, kraulte es in die Haare am Hinterkopf. Der Duft war einfach unglaublich. Und der Gastgeber, seine Jünger und alle anderen Männer im Raum sahen entsetzt zu. Denn Jesus schien es zu genießen! Mit leisem Lächeln auf den Lippen ließ er es zu, dass diese Fremde ihn berührte, ihn in diesen kostbaren Duft tauchte und alle Grenzen des Anstands ignorierte – er freute sich darüber und nahm diese Frechheit geradezu dankbar hin!

„Welch eine Verschwendung!“ rief da einer, und die anderen stimmten erleichtert ein. „Verschwendung!“ – das war ein Vorwurf, auf den man sich einigen konnte. Man musste nicht reden über diese unterschwellige Erotik, über das Übergriffige im Handeln jener Frau, über die unangemessene Zärtlichkeit in ihrem Tun. Verschwendung – das war etwas Handfestes, das anzusprechen man sich wagen konnte.

Jesus, Du liegst da und läßt das zu, dass da ein Jahresgehalt verschwendet wird für teures Parfüm? Wie vielen Armen und Notleidenden hätte man da helfen können! Wie viele Hungernde sättigen! Wieviel hätte man kaufen können, um die Nackten zu kleiden und die Gefangenen frei zu kaufen! Und nun alles dahin in einem Augenblick, vergossen für einen Moment Luxus und Überfluss – Jesus, hast du denn vergessen, dass wir heute nacht wieder unter den Olivenbäumen im Garten Gethsemane übernachten werden wie der einsamste Landstreicher? Welchen Sinn hat dann dieser Duft?

Wenn auch geöffnete Türen verschlossen sind…

Jesus nimmt diese Frau in Schutz. Noch tropft das Öl aus seinen Haaren auf seine Schulter, so verschwenderisch und großzügig hat diese Frau ihn in Wohlgeruch gehüllt. da fragt er seine Jünger: Was betrübt ihr diese Frau? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Noch vor der Zeit hat sie meinen Leib gesalbt fürmein Begräbnis…

Hätte es Simon nicht besser wissen müssen, er, der so lange ausgeschlossen war aus der Gemeinschaft der Menschen in seinem Viertel wegen der ansteckenden Krankheit? Hat er nicht gewusst, wie es ist, wenn Menschen ihre Türen vor ihm schließen? Hätten es die Jünger nicht besser wissen müssen, die schon so lang mit ihm durch Judäa und Samarien gezogen waren und am eigenen Leib erlebt hatten, wie vor ihnen die Türen zugeschlagen wurden?

Wie könnt ihr die Türen schließen, euer Herz hart machen gegen diese Frau, die nichts weiter gemacht hat, als mich zu trösten, mich auf die dunkelste und härteste Stunde meines Lebens vorzubereiten? fragt Jesus sie.

Arme Menschen, Bedürftige, Traurige, Ratlose und Hilflose habt ihr doch immer in eurer Mitte. Ihnen könnt und sollt ihr helfen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

Was aber nutzt das alles, wozu ist es gut, wenn eurem Tun die Liebe fehlt? Wenn ihr helft und euch engagiert, aber eure Tür dabei verschlossen bleibt? Ist es nicht nur tönendes Erz, nutzloses Geklimper, wenn ihr euch aus der Verantwortung für eure Geschwister freikaufen wollt? Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, denn in diesen – den Ärmsten und Geringsten eurer Zeit – kommt der Herr der Welt zu euch!

Lesetipp: Nassim N. Taleb – Der schwarze Schwan

Lesetip: Nassim Nicholas Taleb:
Der schwarze Schwan
Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse
Carl Hanser-Verlag 2008, 456 Seiten, ca. 19 Euro

Alle Schwäne sind weiß – davon waren die Europäer bis ins 17. Jahrhundert hinein überzeugt. Dann wurde Australien entdeckt. Dort gab es schwarze Schwäne, und was keiner für möglich gehalten hatte, war auf einmal Realität.

Auf kluge und sehr unterhaltsame Weise schreibt Nassim Taleb in diesem Buch über die gundlegenden Annahmen, die die Arbeit von Politikern und Finanziers bestimmen. Alle Menschen, die Strukturen für die Zukunft planen, müssen Entscheidungen treffen, die von solchen Annahmen und Glaubenssätzen ausgehen. Meistens gehen sie dabei davon aus, dass die Regeln aus der Vergangenheit auch in Zukunft gelten werden.

Taleb schreibt über die Gefahr unüberlegter Annahmen, auf die die meisten Menschen ihr Leben gegründet haben. „Es ist bisher noch immer gut gegangen…“ – damit beruhigen sie sich selbst und laufen so in vorhersehbare Katastrophen. Denn ähnlich denken auch die Martinsgänse im Oktober…

Mit vielen Beispielen aus der Praxis erklärt er, wie anfällig Systeme für plötzliche Veränderungen sind und wie hilflos die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft reagiert, wenn ihre grundlegenden Voraussetzungen sich plötzlich ändern.

Ob es um eine plötzliche Virusepedemie geht, die Wirtschaftsstrukturen nachhaltig ändert, ob es um neue Erfindungen in der Technik geht, die plötzlich die Aufmerksamkeit von Millionen möglicher Kunden auf sich ziehen oder ob es langsam schleichende Entwicklungen wie den Klimawandel geht, dessen Folgen sich dann doch sehr unerwartet auswirken – Grundlagen ändern sich immer irgendwann, und Sicherheiten gibt es nicht.

Gerade gut strukturierte, durchgeplante und „krisenfeste“ Systeme haben sich dabei oft als besonders verletzlich erwiesen, während sich flexible, bewegliche und „unordentlich“ wirkende Konstruktionen viel besser anpassen konnten.

Es ist dabei nicht die Frage, ob die Katastrophe kommt, sondern nur, wann. Kann man sich vorbereiten? Kann man Strategien entwickeln, die auch dann noch halten? Eine dringende Frage in unseren Zeiten, die nicht zuletzt auch die Kirche betrifft.

Der libanesische Autor dieses Buches war viele Jahre als Mathematiker und Finanzexperte in den Vereinigten Staaten tätig und kennt die Grundlagen und Strukturen des Banken- und Versicherungswesen aus eigener Erfahrung. Risikoabschätzungen und das Rechnen mit unvorhergesehenen Entwicklungen waren sein Tagesgeschäft. Inzwischen ist er auch als Philosoph an der Universität von Massachusetts Amherst tätig und lehrt dort in der Fakultät für Statistik die „Wissenschaft der Unsicherheit“.

In treuer Verbundenheit…

Manchmal versteht man gewisse Dinge erst viele Jahre später.

Ich hatte einen Arbeitskollegen, der seine Briefe immer mit den Worten „In treuer Verbundenheit, C.F.“ unterschrieben hat. Ich habe das immer einfach so hin genommen, denn diese Worte passten zu ihm. Er ist ein Pfarrer vom alten Schlag, wie es heute nicht mehr viele gibt; und nicht nur in seinen Briefen, sondern auch in seiner Predigt verwendet er gern und oft altmodisch wirkende Worte.

In diesen Tagen denke ich oft an die Menschen, die mir wichtig sind, die mich über viele Jahre begleitet haben und an die ich mich gern erinnere. Und plötzlich sind mir diese Worte wieder eingefallen, und ich verstehe auf ein Mal, wie schön, wie tief und bedeutend sie sein können, wenn sie ernst gemeint sind.

Ich habe wenig Freunde, und wahrscheinlich habe ich oft viel zu wenig getan, um Freundschaften zu pflegen, aufzubauen und sich entwickeln zu lassen.

Zu diesen Wenigen aber empfinde ich eine tiefe Verbundenheit, auch wenn ich sie nur ein paar mal im Jahr sehe und manche überhaupt nur online kenne. C. kenne ich seit vierzig Jahren, und bei jedem Kontakt ist es, als ob wir uns täglich treffen würden. Die alte Vertrautheit ist sofort wieder da. G. habe ich vor fünfundzwanzig Jahren kennengelernt, und sie ist ein paar Monate später weggezogen und reist seitdem beruflich auf der ganzen Welt herum. Wir haben uns nur einmal wieder gesehen seitdem. M. ist für mich der einzige Mensch, mit dem ich wirklich über alles reden kann, ohne Angst. Vor zwölf Jahren haben wir uns im Internet getroffen. Und mein Leben wäre anders ohne sie.

I. habe ich lange aus den Augen verloren, aber seit drei Jahren haben wir ein Jahrzehnte alte Freundschaft wiederbelebt. Und dann sind da M. und A. und ihre Kinder.

Jetzt in der Corona-Zeit haben viele von ihnen Sorgen, Angst vor der Krankheit, Angst um die Familie, Angst um die berufliche Existenz und alles, was damit zusammen hängt. Ich würde gerne trösten, beruhigen, in den Arm nehmen. Aber es geht nicht.

Und auf einmal sind die Worte, die mein Arbeitskollege immer schrieb, ein starker Trost, denn das bleibt uns. In treuer Verbundenheit. Richard

All the lonely people…

Ich schreibe auch diese Woche wieder eine Predigt und mache mir Gedanken über eine Reihe von Passionsandachten. Wahrscheinlich wird aber niemand diese Worte hören, niemand diese Gebete mitsprechen. Ich spüre aber, dass es mir selbst gut tut, zu schreiben. Es macht mir Freude. Vielleicht ist es auch nur eine Möglichkeit für mich, einen Anschein von Normalität zu wahren…

Denn auch für mich sind diese Wochen ungewöhnlich, beängstigend und verstörend. Ich weiß, mir geht es unglaublich gut: Ich bin gesund, ich muss mir keine Sorgen machen wegen meines Gehalts und wegen meiner Arbeitsstelle. So vielen anderen Menschen, die mir wichtig sind, geht es aber wirklich schlecht – einer ist im Krankenhaus, mehrere Freundinnen und Freunde sind in Quarantäne; andere müssen noch jeden Tag zur Arbeit und haben Angst, sich anzustecken…

Für manche sieht die Zukunft kompliziert aus, weil das Einkommen wegbricht, die laufenden Kosten aber weiterhin gezahlt werden müssen. Und ich kenne einige Menschen, die schon vor Corona in prekären Verhältnissen lebten und nun leiden, weil sie in vollen Fluren und Wartezimmern von Ämtern und Behörden sitzen müssen…

Ich verbringe einen großen Teil meiner Zeit damit, Gemeindeglieder anzurufen, von denen ich vermute, dass sie allein und einsam sind. Fast alle sind aber relativ gut gelaunt, werden von Nachbarn und Freunden unterstützt und leben selbst in dieser Zeit ein „normales“ Leben. Das Einzige, was fehlt, sind die Besuche der Enkelkinder…

Die meisten Leute, die ich anrief, haben sich darüber gefreut, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie einsam sind.

Und ich frage mich, ob ich als Pfarrer im Moment überhaupt gebraucht werde. Ich schreibe, um nicht nichts zu tun, weil ich das schwer aushalte, nicht irgendwie und irgendwo tätig zu sein. Vielleicht wäre aber genau das jetzt dran: ausschlafen, Kraft sammeln, nachdenken. Lesen, wie sonst nur im Urlaub. Wandern und meine sechs Dörfer mal zu Fuß erkunden. Beten, einmal nur für mich und nicht als Vor-Beter für eine kleine Gemeinde.

Das Internet verführt dazu, sich zu betätigen: ich könnte einen Podcast in mein Mikrofon sprechen, Andachten auf Video veröffentlichen, Flugblätter und Handzettel mit Gottesdiensten „für zu Hause“ schreiben – aber ich weiß, dass meine Gemeindeglieder das nicht erreicht, dass sie es auch gar nicht brauchen. Podcasts und Online – Andachten gibt s massenhaft. Vieles, was jetzt im Internet erscheint, ist richtig, richtig gut. Meine Gemeindeglieder werden sich das trotzdem nicht ansehen. Es würde ihnen nicht nützen. Sie kommen größtenteils mit der Situation klar – anscheinend besser als ich.

Father McKenzie
Writing the words of a sermon that no one will hear
No one comes near
Look at him working
Darning his socks in the night when there’s nobody there
What does he care?

All the lonely people
Where do they all come from?
All the lonely people
Where do they all belong?

The Beatles – Eleanor Rigby

Wie einen seine Mutter tröstet…

Predigt zu Jesaja 66

Heile, heile Gänschen…

Wenn ein Kind sich weh getan hat, wenn eine Biene gestochen hat, wenn das Knie blutet oder ein Fingerchen in der Tür eingeklemmt war, ist es meistens die Mutter, die mit tröstenden Worten zur Stelle ist. Sie nimmt das verzweifelt schreiende Kind in den Arm, trocknet die kullernden Tränen und pustet auf die verletzte Stelle am Finger; kleine Rituale trösten und lassen den Schmerz vergessen.

Meine Mutter hat immer, wenn ich untröstlich war, dieses kleine Lied gesungen: „Heile, heile Gänschen / das Kätzchen hat ein Schwänzchen / Heile, heile Mausespeck / in hundert Jahr’n ist alles weg.“ Und wenn sie wenig Zeit hatte, nahm sie mich in den Arm und sagte nur: „Bis Du heiratest, ist das alles wieder gut…“

Bei Kindern funktionieren diese kleinen Gesten der liebevollen Zuwendung erstaunlich gut. Sie lenken von dem akuten Schmerz ab, den ein Kind dann tatsächlich nicht mehr fühlt; sie schaffen diesen besonderen Moment der Sicherheit, in dem es nichts anderes mehr auf der Welt gibt als das Ich und Du, die Mutter und das Kind, die Tröstende und die Getröstete.

Auch später im Leben, wenn der Schmerz und das Leid sich nicht immer wegpusten und mit einem Liedchen zersingen lassen, ist der Trost der Mutter ein wirksamer Schutz, eine Quelle der Kraft, ein Segen.

Ich bin da; ich bin bei Dir…

Diese Grunderfahrung nimmt der Prophet Jesaja auf, wenn er die liebevolle Zuwendung Gottes in die Worte gießt: „Ja, ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet!“

Geradezu intime Worte legt er Gott in den Mund. Worte, wie sie eigentlich nur eine Frau, nur eine Mutter wirklich verstehen kann: Unter Mühen und Schmerzen hat sie ein Kind zur Welt gebracht, erschöpft ist sie und müde, und die Wehen sind noch wie ein brennendes Echo in ihrem Leib; doch da legt man ihr ihr Kind auf den Bauch, ein kleines, rotes, runzeliges Bündel, ein Menschlein, das genau so erschöpft ist, genau so müde, und das aus Leibeskräften schreit.

Und sie beginnt es zu streicheln, murmelt beruhigende Worte, tröstenden Singsang, gemeinsam atmen sie den Schmerz weg und dann wird es still und beide schlafen ein…

Dieses Bild wählt Jesaja, um zu beschreiben, wie es zwischen Gott und seinem Volk Israel aussieht. Dieses intime Bild aus dem Kern einer Familie beschreibt etwas höchst Politisches aus der jüngsten Geschichte, die der Prophet mit seinen Landsleuten teilt: der große, verheerende Krieg ist seit achtzig Jahren vorbei, zwei Generationen haben in der Fremde gelebt, im fernen Land Babylon, wo sie zunächst Flüchtlinge und Kriegsgefangene waren, später dann geduldete Zuwanderer. Dort fand Gott sein Volk wieder, nach Jahrzehnten hat er es neu geboren und noch einmal zur Welt gebracht, und er hat es sich an die Brust gelegt und gesäugt, er hat es auf seinem Arm getragen und es auf seinem Schoß spielen lassen, er hat sie zurück in ihre Heimat gebracht und ihnen dort Raum gegeben, zu bauen und zu wohnen, zu pflanzen und zu ernten, zu essen und zu trinken, zu leben, zu wachsen und zu blühen…

Zurück im Land ihrer Vorfahren erlebten die Israeliten, dass sie auch dort nicht mehr wirklich zuhause waren. Die durch die Zeit verklärten Erinnerungen, die Geschichten der Alten, die blühende Phantasie der zurückkehrenden jungen Menschen wurden mit einer harschen Wirklichkeit konfrontiert.

Vieles, was einst gerühmt und geliebt war, lag nun in Ruinen – Jerusalem, die Stadt Gottes mit dem Tempel und dem Palast des Königs – und das Land war nicht leer. Die einstigen Nachbarn waren fremd geworden, und Menschen aus anderen Ländern waren zugezogen und hatten andere Götter und andere Kultur mitgebracht. Und auch sie selbst hatten sich verändert. Viel Arbeit lag vor ihnen, es gab noch viel zu tun, bis man wieder von Frieden reden konnte.

Trösten, aber nicht vertrösten…

In diese Situation, in diese Enttäuschung und diesen Schmerz hinein spricht Gott: Ich bin bei euch, so wie ich es immer war. Ihr seid mein Kind, mein Neugeborenes, meine Freude, mein Glück, mein ganzer Stolz. Ich lege euch an meine Brust, dass ihr saugen sollt und Kraft gewinnen, leben sollt ihr und gedeihen, ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, und Jerusalem, die Stadt des Friedes, soll eure Freude sein…

Von Trost spricht der Prophet, und nicht nur von Vertröstung. Sein Lied sagt nicht nur „Heile, heile Gänschen“, sondern es ist eine kraftvolle Zusage, getragen durch den Glauben an einen Gott, der in die Geschichte eingreift, der zu seinem Wort steht und der tut, was er versprochen hat.

Durch die lange Gefangenschaft hindurch hatten die Israeliten den Glauben bewahrt, dass Gott einen Bund mit ihnen geschlossen hat, den er niemals brechen wird: Er ist und bleibt der Gott, der mit geht, der da ist, der sich ihnen verbunden hat in guten wie in schlechten Zeiten und den nichts – auch der Tod nicht – von ihnen trennen wird.

Auch in der fernen Stadt Babylon war Gott ihnen nah; und als sie ihre Harfen schlugen an fremden Flüssen und weinten, hörte Gott sie und weinte mit ihnen. Bis er sich nach acht Jahrzehnten erhob und eine wundervolle Zeit beginnen ließ, eine Zeit voller Wunder, in der es möglich wurde, dass die Israeliten zurückkehrten in das Land, in dem einst Milch und Honig floss, in dem König David regierte und Wahrheit und Kraft ausgingen von dem Tempel Gottes.

Das heißt nicht, dass die unheilvolle Geschichte nun nachträglich einen Sinn zugesprochen bekommt, nichts wird hier wegerklärt oder verharmlost. Was wirklich ist, wird benannt, zum Teil mit harschen Worten und Vergleichen, die sich genau so anhören wie die kriegstreibende Propaganda von vor achtzig Jahren.

Aber in all dem klingt auch wieder die Große Verheißung an, dass Gott Frieden schafft unter den Völkern und sie alle vereint sein werden in einem Gottesdienst unter dem Segen dessen, der Himmel und Erde gemacht hat und der Gott ist, Mutter und Vater für alle. Dieser Glaube, diese Vision des großen Friedensreiches Gottes, soll die Israeliten aufmuntern, zu träumen, zu hoffen und zu arbeiten – dass es wahr werde!

Liebe in den Zeiten von Corona…

Glauben wir an einen Gott, der wirksam in die Geschichte eingreift? Trauen wir ihm das Gute in unserem Leben und in unserer Geschichte zu, stellt sich sofort die Frage, warum er auch das Böse zulässt. Oder entspricht Krieg, Hunger, Krankheit und früher Tod in irgendeiner Weise, die wir nicht verstehen können, seinem Willen? Hat Gott Corona in die Welt gebracht, um uns irgendetwas zu beweisen, uns irgendetwas zu sagen?

Wenn wir andererseits sagen, Gott handelt nicht in dieser Welt, er lässt den Menschen tun, dem er immerhin einen freien Willen gegeben hat und Vernunft und Moral und ein waches Gewissen – widerspricht das nicht allem, was wir glauben und zerstört letztlich das Vertrauen, das uns durch unser Leben trägt? Wenn Gott nichts tut, wie kann er uns bewahren und beschützen und uns ein guter Hirte und eine Mutter sein? Wenn er uns nicht tröstet, wer tröstet uns dann?

Unser Glaube geht über eine sehr schmale Brücke und ist immer in der Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und zur rechten oder zur linken Seite hinab zu stürzen in einen unfassbaren Abgrund. Hier kann es keine Patent-Antworten geben. Vielleicht ist ja schon die Frage falsch gestellt, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und wieso er das alles zulässt.

In Israel hat man nicht geglaubt, dass Gott ein fernes, unnahbares Gegenüber ist. Man hat nicht an einen Weltenlenker geglaubt, der fernab von seinen Geschöpfen über einen Touchscreen wischt und das Werden und Vergehen von Welten, Leben und Tod seiner Menschen an einem Computer programmiert. Man hat an die Liebe Gottes geglaubt, an seine brennende Leidenschaft für alles, was lebt, an seinen Zorn und seine Eifersucht, wenn die Seinen ihn vergessen haben, vor allem aber an seine Liebe und an seine Bereitschaft, sich hinzugeben für die, die er in seine Hände gezeichnet hat und die er behüten will wie seinen Augapfel.

Gott wohnt mitten unter den Menschen, lebt in ihrer Mitte, ist in dieser Welt zu Haus – und was wir leiden, leidet er auch. In dem Leben des Jesus von Nazareth ist das für uns Christen offenbar geworden, so deutlich, wie es nur denkbar ist: Er wurde für uns geboren von Maria, der Jungfrau, hat gelitten am Kreuz und ist gestorben, begraben, tot – wie wir es alle einmal sein werden. Selbst diesen Weg alles Sterblichen ging Gott mit.

Er starb, damit wir auch mit ihm auferstehen von den Toten und mit ihm das Leben geschenkt bekommen, das kein Ende hat, weil es Leben bei Gott ist, dem Ewigen, der neben und über und in der Zeit ist. Auf diesem letzten Weg nimmt er uns mit. Damit es Ostern wird.

In hundert Jahr’n ist alles weg…

Ist es vermessen, zu sagen, dass dieser Glaube, der Israel damals zur Zeit des Propheten Jesaja und danach durch Jahrhunderte voller Leid und Verfolgung immer wieder getröstet hat, auch uns tragen und trösten kann? Ist es vermessen, sich dieses Vertrauen zu eigen zu machen, dass Gott Mutter und Vater aller Menschen ist, die an ihn glauben?

Schon Jesaja sagt es, dass spätestens am Ende alle eingeladen sind in den ewigen und immerwährenden Gottesdienst an dem, der alle Tränen trocknet, wenn der Tod nicht mehr sein wird und Leid und Geschrei ein Ende haben, der die Seinen tröstet wir einen seine Mutter tröstet. Es sind alle eingeladen. Auch wir.

Es ist noch nicht zu sehen. Wie die Israeliten nach der Rückkehr aus Babylon vor Trümmern standen und erst langsam erkannten, welch große Möglichkeiten Gott ihnen eröffnete, welch reichen Segen er über ihnen ausgegossen hatte, welche Zukunft er ihnen auftat, so steht auch die Kirche, die Christenheit immer noch am Anfang des Weges.

Das Reich Gottes ist noch nicht greifbar, niemand kann es sehen – aber es hat schon begonnen unter uns, und hier und da blitzt es auf, unsichtbar und nicht zu hören, schon gar nicht zu begreifen – und doch genug für einen festen Glauben, der nicht wankt. Denn wir sind getröstet, heute und immer wieder.

Ab und zu erleben wir auch diesen Moment der Sicherheit, in dem da nichts ist als ein Du und ein Ich, eine Mutter und ihr Kind, die Tröstende und die Getröstete. Gott hat uns eine gute Zukunft verheißen, in der der Tod nicht mehr sein wird und kein Geschrei und kein Schmerz. In hundert Jahr’n, am Ende der Zeit, ist alles weg. Nur die Liebe bleibt. Dass es wahr werde!

Was bedeutet exponentielles Wachstum?

Reis auf dem Schachbrett

Es wird erzählt, das der Weise Brahmane Sissa ibn Dahir das Schachspiel erfunden habe. Zwei Schachspieler kämpfen gegeneinander, indem sie auf vierundsechzig Feldern zweiunddreißig schwarze und weiße Figuren verschieben und sich dabei an einen Satz relativ einfacher Regeln halten. Trotz der einfachen Regeln zeigt das Schachspiel für den Könner eine gerade zu unglaubliche Komplexität. Der Kampf auf dem Schachbrett wird zu einem Trainingsfeld für Geist und Phantasie der Spieler, für Ausdauer und Entscheidungskraft, für Mut und Durchhaltevermögen, für Bescheidenheit und Kampfgeist. Es ist nicht nur Sport, sondern auch Kunst.

Der indische Herrscher Shiram war von diesem Schachspiel begeistert und soll dafür gesorgt haben, dass im ganzen Land Spielbretter und Figuren aufgestellt wurden, so dass seine Untertanen und seine Soldaten sich in diesen Tugenden üben konnten.

Sissa ibn Dahir aber durfte sich eine Belohnung wünschen. Der Weise bat um „etwas Reis“ auf einem Schachbrett: „Lege mir ein Reiskorn auf das erste Feld, zwei Reiskörner auf das zweite Feld, vier auf das dritte und acht auf das vierte – und immer so weiter. Was am Ende auf den vierundsechzig Feldern liegt, das soll meine Belohnung sein.“

Der indische Herrscher lachte über die Dummheit des Brahmanen, der sich scheinbar nur ein paar Kilo Reis gewünscht hatte; er war sogar ein bisschen zornig, dass seine Dankbarkeit und seine Großzügigkeit so gerin geschätzt wurde. Aber dann…

Am nächsten Tag kam der zuständige Minister zu dem Herrscher und berichtete, dass es unmöglich sei, dem weisen Brahmanen das Geforderte auszuzahlen. Im ganzen Land sei nicht so viel Reis vorhanden. Der Herrscher von Indien wunderte sich und ließ sich das genauer erklären. Ja, auf den ersten Feldern seien der Reiskörner nur wenige, aber schon in der dritten Reihe des Schachbrettes käme in das Feld in der ersten Spalte ein ganzes Kilo Reis, und dann zwei Kilo auf das nächste Feld und dann vier, und auf das letzte Feld dieser Reihe wäre ein Zentner Reis zu legen. In der nächsten Reihe dann insgesamt hundert Tonnen, und in der nächsten Reihe zweihundert, vierhundert, achthundert Tonnen auf jedes Feld. Und das sei erst die fünfte Reihe des Brettes!

Der Herrscher wurde ungeduldig: „Erspare mir dieses Geschwätz! Vieviel Reis ist es denn insgesamt?“ Der Minister verstummte…

Ich weiß nicht einmal, ob es im damaligen Indien eine so hohe Zahl überhaupt gab; nach heutiger Rechnung war der Herrscher dem Brahmanen insgesamt 730 Milliarden Tonnen Reis schuldig. Das ist die Welt-Reis-Produktion von 1200 Jahren.

Doppelt so viel…

Falten Sie ein Blatt Papier in der Mitte. Falten Sie es wiederum in der Mitte. Tun Sie es noch einmal. Wie oft können Sie das wohl wiederholen? Die Antwort ist: Acht oder höchstens neun Mal. Nach dem ersten Faltvorgang haben Sie zwei Lagen Papier, dann vier, dann acht. Nach dem neunten Mal haben sie 1024 Lagen übereinander, und ihr Blatt ist kein Blatt mehr, sondern eine Art Würfel aus Papier. Den können Sie nicht mehr falten. Die Zahl der Papierlagen wächst exponentiell.

Wann immer etwas innerhalb einer bestimmten Zeitspanne um einen bestimmten Faktor zunimmt, spricht man von exponentiellem Wachstum. Ob es nun Reiskörner auf einem Schachbrett sind oder Bakterien in einem Wasserglas, Geld auf einem Konto oder Viren in der freien Natur – das Prinzip ist immer das gleiche: Es beginnt unscheinbar und langsam. Alle halbe Stunde teilt sich ein Bakterium, erst ist es nur eins, dann zwei, vier, acht – aber nach vierundzwanzig Stunden sind es über Hundert Billiarden.

Derart ungebremstes Wachstum kommt in der Natur eher selten vor, deshalb haben wir Menschen keinen Sinn, kein Gefühl dafür, was das eigentlich bedeutet, welcher mathematische Mechanismus hinter dem exponentiellen Zuwachs steckt.

Ein einziges Bakterium, das sich ungehindert vermehrt, könnte innerhalb von zwei Tagen sämtliche Ozeane der Erde verseuchen. Eine ansteckende Krankheit, die an jedem Tag nur einen einzigen anderen Menschen ansteckt, der dann wieder einen anderen ansteckt, kann innerhalb von zwei Monaten alle Menschen der Erde befallen.

Warum geschieht das dann nicht andauernd? Warum sind nicht alle Menschen ständig krank?

Grenzen des Wachstums

Weil exponentielles, ungebremstes Wachstum in der Wirklichkeit extrem selten vorkommt. In der Wirklichkeit kann die Sache mit dem Reis auf dem Schachbrett nicht funktionieren, weil es einfach nicht möglich ist, eine Tonne Reis auf dem Feld eines Schachbretts zu plazieren. Ansteckende Viren finden irgendwann kein neues Opfer mehr, weil alle Menschen in einer bestimmten Gegend schon angesteckt oder immun sind. Wölfe, die sich in einem Wald vermehren, finden schon bald keine Beutetiere mehr und müssen verhungern. Bakterien können sich nicht weiter teilen, weil alle Nährstoffe verbraucht sind und einfach kein Platz mehr im Glas ist.

Wenn man die Entwicklung einer Krankheit beispielsweise in eine Grafik einträgt, steigt die Kurve zunächst steil an. Die Epedemie beginnt mit wenigen Kranken, doch bald verdoppelt sich die Zahl der Kranken jeden Tag. (Oder alle drei Tage, oder jede Woche, das ist fast nebensächlich.) Die Epedemie wächst exponentiell. Aber bald ist ein großer Teil der Bevölkerung von dem Virus befallen, es gibt weniger Neuansteckungen, weil immer mehr Menschen schon krank sind oder inzwischen immun gegen das Virus. Die Kurve flacht sich ab, erreicht einen höchsten Wert, bei dem sie dann stehen bleibt. Wenn dann ein Impfstoff gefunden wird, sinkt die Kurve wieder, weil immer mehr Kranke gesund werden.

Eine solche Kurve, die ein bisschen wie ein
liegendes S aussieht, nennt der Mathematiker
Sigmoide.

Exponentielles Wachstum zeigt zum Beispiel die Entwicklung
der Bevölkerungszahl der Menschen auf der Erde.
Bis in das neunzehnte Jahrhundert gab es nie mehr
als eine Milliarde Menschen auf der Welt. Gut
hundert Jahre später waren es zwei Milliarden.
Seitdem verdoppelt sich die Weltbevölkerung alle
vierzig Jahre.

Wir sind noch in der Phase des exponentiellen Wachstums, doch schon bald werden die Ressourcen knapp – aller Fortschritte in der Medizin, der Agrartechnik und der Lebensmittelproduktion. Das Wachstum der Menschheit wird gebremst und eine Obergrenze erreichen. Noch haben wir keine zweite Erde, auf der sich das Wachstum fortsetzen könnte.

Corona – warum es wichtig ist, zu Hause zu bleiben

Der vordere Teil der Sigmoid-Kurve ist von der Kurve für exponentielles Wachstums kaum zu unterscheiden. Die Anzahl der Viren, Wölfe, Menschen – oder was auch immer – verdoppelt sich regelmäßig. Erst, wenn ein gewisser Schwellenwert erreicht ist, steigt die Kurve weniger stark.

Dieser Schwellenwert aber ist im Fall Corona beeinflußbar. Menschen, die vorsichtig sind, unnötige Kontakte vermeiden und sich an die einfachen Regeln der Hygiene halten, ziehen die Kurve gewissermaßen seitlich auseinander. Das Wachstum geschieht langsamer, die Medizin hat Zeit, Gegenmaßnahmen zu entwerfen, Impfstoffe zu finden. Die Betten auf den Intensivstationen der Krankenhäuser werden nicht so stark belastet.

Das alles führt dazu, dass auch der Schwellenwert niedriger wird, an dem die Kurve der Erkrankungen in die logarithmische Phase übergeht. Eine gewisse Sättigung ist dann erreicht. Das heißt aber noch nicht, dass dann alle Menschen wieder gesund sind – es steckt sich nur niemand neu an. Wenn die Bevölkerung dann wieder unvorsichtig wird, kann die Krankheit erneut in eine Wachstumsphase eintreten.

Honig und Pfeffer

Salz
hat er zu mir gesagt
Salz
müsst ihr sein
ihr Christen

Das stimmt nicht
habe ich zu ihm gesagt
in meiner Bibel
steht das anders:
Wir sind Salz.

Stimmt
hat er zu mir gesagt
Ihr seid Salz
und doch seid ihr es nicht.

Ihr seid
Honig und Pfeffer.

Das stimmt nicht
wollte ich ihm sagen.

Aber
ich habe nichts mehr gesagt

Manfred Mergel

Die Liebe in den Zeiten von Corona

Ich sitze zuhause vor meinem Computer. Neben mir liegt der fertig vorbereitete Gottesdienstablauf für den Gottesdienst in der Seniorenresidenz, der eigentlich jetzt in diesen Minuten beginnen sollte. Statt dessen habe ich dort angerufen und abgesagt. Das Risiko erscheint mir und den anderen Verantwortlichen zu groß, in der Dreiviertelstunde eine der Gottesdienstbesucherinnen anzustecken.

Es tut mir leid, dass die alten Damen heute ohne die Möglichkeit bleiben, gemeinsam zu singen, gemeinsam zu beten und miteinander zu reden. Ich weiß, dass ihnen diese Dreiviertelstunde wichtig ist, in der sie aus ihrem Alltag aussteigen können.

Der Chor wird sich bis auf Weiteres nicht zum Üben treffen, die Bibelstunden fallen aus, die Skatrunde findet nicht statt. Sogar der Konfirmandenunterricht ist abgesagt. Und die Sitzung der Kreissynode ist vertagt worden bis Juni. Alle diese Veranstaltungen sind soziale Kontakte und werden abgebrochen – aus Verantwortungsgefühl und aus Angst vor Ansteckung.

Ich überlege, ob wir Kirchenleute nicht gerade jetzt besonders nahe bei den Leuten sein müssten, tröstend und ermutigend. Eine Frau aus meiner Gemeinde wird heute 104 Jahre alt, sie würde sich sicher sehr freuen, wenn der Pfarrer sie besuchen käme. Eine Familie trauert, weil sie den Spanien-Urlaub absagen musste und das Geld für die Flugkarten nun doch nicht erstattet bekommt. Und auch nicht die Gebühren für die schon im Voraus bezahlten Eintrittskarten für die spanische Hofreitschule. Es wäre gut, sie zu besuchen und das beliebte Paella – Rezept mit zu bringen, das beim Gemeinde-Kochen alle so begeistert hat.

Der Kindergarten hat sein Frühlingsfest abgesagt; die Kinder sind traurig, weil drei Wochen Proben und Kulissenbasteln nun umsonst waren. Da tröstet nur wenig, dass es dafür ein tolles Sommerfest geben soll. Der Tanz-Ball in der Dorfhalle wird nicht statt finden – darauf haben sich die Tanzpaare schon das ganze Jahr lang gefreut… Aus der Traum!

Und viele Menschen aus meinen Gemeinden haben Angst, weil ihre Betriebe Umsatzeinbußen haben durch das Virus und die Angst der Menschen davor; manche kleine Handwerksbetriebe sehen sich am Rand der Insolvenz. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sind nicht mehr nur Wolken am Rand des Horizonts; sie ziehen drohend heraus und verdunkeln den Blick in die Zukunft. Und andere – Busfahrer, Krankenschwestern, Polizistinnen und Polizisten, Kassiererinnen und Ärztinnen – fürchten sich vor einer möglichen Ansteckung und haben nicht die Möglichkeit, relativ problemlos zu Hause zu bleiben so wie ich.

Ist es nicht lieblos, sie alle mit ihren Sorgen und in ihrer Not allein zu lassen? Senden wir nicht ein Zeichen aus, das von Angst spricht, von schwachem Glauben? Ist es nicht auch egoistisch, die eigene Sorge über die Bedürftigkeit der Anderen zu stellen?

Und außerdem: Ist auf das, was Pfarrerinnen und Pfarrer tun, wirklich so leicht zu verzichten; sind wir so entbehrlich?

Ich habe mich entschieden, heute nicht in die Seniorenresidenz zu gehen, um dort Gottesdienst zu feiern. Ich halte des nicht für egoistisch und lieblos, sondern für verantwortungsbewusst und – ja, auch für ein Zeichen geschwisterlicher Liebe.

Denn was wäre das für eine Liebe, die stur an dem Gewohnten fest hält und sich als unentbehrlich denkt, und so die Menschen, die ihr anvertraut sind, in Gefahr bringt? Gott ist auch so bei den Menschen mit seinem Segen und mit seinem Trost. Und es geht ja nicht darum, dass ich mich gebraucht und bestätigt fühle, es geht nicht darum, dass ich weiß, ich habe gute Arbeit gemacht. Es geht um einen Verzicht, um ein Fasten, wenn man es so sagen will, zugunsten der Gesundheit und der Lebenserwartung der Gemeindeglieder und ihrer Verwandten. Und vielleicht ja auch ein evangelisches Glaubensbekenntnis: Es kommt nicht auf das an, was ich leiste – sondern auf das, was Gott tut.

Ausläuten

In einem „meiner“ Dörfer ist vorgestern jemand gestorben. Seit gestern weiß ich davon. Es ist Brauch, dass für die Verstorbenen morgens um acht die Kirchenglocken geläutet werden. Drei mal eine Viertelstunde lang.

In der Kirche ist es noch sehr kalt. Ich habe die Glocken eingeschaltet und sitze jetzt im warmen Auto vor der Kirche, trinke Kaffee und denke an den, der so plötzlich und lange vor seiner Zeit aus dem Leben gegangen ist.

Der Glockenklang schwingt über die Dächer der Häuser und der Scheunen, über Felder und Wiesen. Gott, sei uns gnädig und nimm seine Seele in Frieden auf…