Predigt zu Jesaja 66
Heile, heile Gänschen…
Wenn ein Kind sich weh getan hat, wenn eine Biene gestochen hat, wenn das Knie blutet oder ein Fingerchen in der Tür eingeklemmt war, ist es meistens die Mutter, die mit tröstenden Worten zur Stelle ist. Sie nimmt das verzweifelt schreiende Kind in den Arm, trocknet die kullernden Tränen und pustet auf die verletzte Stelle am Finger; kleine Rituale trösten und lassen den Schmerz vergessen.
Meine Mutter hat immer, wenn ich untröstlich war, dieses kleine Lied gesungen: „Heile, heile Gänschen / das Kätzchen hat ein Schwänzchen / Heile, heile Mausespeck / in hundert Jahr’n ist alles weg.“ Und wenn sie wenig Zeit hatte, nahm sie mich in den Arm und sagte nur: „Bis Du heiratest, ist das alles wieder gut…“
Bei Kindern funktionieren diese kleinen Gesten der liebevollen Zuwendung erstaunlich gut. Sie lenken von dem akuten Schmerz ab, den ein Kind dann tatsächlich nicht mehr fühlt; sie schaffen diesen besonderen Moment der Sicherheit, in dem es nichts anderes mehr auf der Welt gibt als das Ich und Du, die Mutter und das Kind, die Tröstende und die Getröstete.
Auch später im Leben, wenn der Schmerz und das Leid sich nicht immer wegpusten und mit einem Liedchen zersingen lassen, ist der Trost der Mutter ein wirksamer Schutz, eine Quelle der Kraft, ein Segen.
Ich bin da; ich bin bei Dir…
Diese Grunderfahrung nimmt der Prophet Jesaja auf, wenn er die liebevolle Zuwendung Gottes in die Worte gießt: „Ja, ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet!“
Geradezu intime Worte legt er Gott in den Mund. Worte, wie sie eigentlich nur eine Frau, nur eine Mutter wirklich verstehen kann: Unter Mühen und Schmerzen hat sie ein Kind zur Welt gebracht, erschöpft ist sie und müde, und die Wehen sind noch wie ein brennendes Echo in ihrem Leib; doch da legt man ihr ihr Kind auf den Bauch, ein kleines, rotes, runzeliges Bündel, ein Menschlein, das genau so erschöpft ist, genau so müde, und das aus Leibeskräften schreit.
Und sie beginnt es zu streicheln, murmelt beruhigende Worte, tröstenden Singsang, gemeinsam atmen sie den Schmerz weg und dann wird es still und beide schlafen ein…
Dieses Bild wählt Jesaja, um zu beschreiben, wie es zwischen Gott und seinem Volk Israel aussieht. Dieses intime Bild aus dem Kern einer Familie beschreibt etwas höchst Politisches aus der jüngsten Geschichte, die der Prophet mit seinen Landsleuten teilt: der große, verheerende Krieg ist seit achtzig Jahren vorbei, zwei Generationen haben in der Fremde gelebt, im fernen Land Babylon, wo sie zunächst Flüchtlinge und Kriegsgefangene waren, später dann geduldete Zuwanderer. Dort fand Gott sein Volk wieder, nach Jahrzehnten hat er es neu geboren und noch einmal zur Welt gebracht, und er hat es sich an die Brust gelegt und gesäugt, er hat es auf seinem Arm getragen und es auf seinem Schoß spielen lassen, er hat sie zurück in ihre Heimat gebracht und ihnen dort Raum gegeben, zu bauen und zu wohnen, zu pflanzen und zu ernten, zu essen und zu trinken, zu leben, zu wachsen und zu blühen…
Zurück im Land ihrer Vorfahren erlebten die Israeliten, dass sie auch dort nicht mehr wirklich zuhause waren. Die durch die Zeit verklärten Erinnerungen, die Geschichten der Alten, die blühende Phantasie der zurückkehrenden jungen Menschen wurden mit einer harschen Wirklichkeit konfrontiert.
Vieles, was einst gerühmt und geliebt war, lag nun in Ruinen – Jerusalem, die Stadt Gottes mit dem Tempel und dem Palast des Königs – und das Land war nicht leer. Die einstigen Nachbarn waren fremd geworden, und Menschen aus anderen Ländern waren zugezogen und hatten andere Götter und andere Kultur mitgebracht. Und auch sie selbst hatten sich verändert. Viel Arbeit lag vor ihnen, es gab noch viel zu tun, bis man wieder von Frieden reden konnte.
Trösten, aber nicht vertrösten…
In diese Situation, in diese Enttäuschung und diesen Schmerz hinein spricht Gott: Ich bin bei euch, so wie ich es immer war. Ihr seid mein Kind, mein Neugeborenes, meine Freude, mein Glück, mein ganzer Stolz. Ich lege euch an meine Brust, dass ihr saugen sollt und Kraft gewinnen, leben sollt ihr und gedeihen, ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, und Jerusalem, die Stadt des Friedes, soll eure Freude sein…
Von Trost spricht der Prophet, und nicht nur von Vertröstung. Sein Lied sagt nicht nur „Heile, heile Gänschen“, sondern es ist eine kraftvolle Zusage, getragen durch den Glauben an einen Gott, der in die Geschichte eingreift, der zu seinem Wort steht und der tut, was er versprochen hat.
Durch die lange Gefangenschaft hindurch hatten die Israeliten den Glauben bewahrt, dass Gott einen Bund mit ihnen geschlossen hat, den er niemals brechen wird: Er ist und bleibt der Gott, der mit geht, der da ist, der sich ihnen verbunden hat in guten wie in schlechten Zeiten und den nichts – auch der Tod nicht – von ihnen trennen wird.
Auch in der fernen Stadt Babylon war Gott ihnen nah; und als sie ihre Harfen schlugen an fremden Flüssen und weinten, hörte Gott sie und weinte mit ihnen. Bis er sich nach acht Jahrzehnten erhob und eine wundervolle Zeit beginnen ließ, eine Zeit voller Wunder, in der es möglich wurde, dass die Israeliten zurückkehrten in das Land, in dem einst Milch und Honig floss, in dem König David regierte und Wahrheit und Kraft ausgingen von dem Tempel Gottes.
Das heißt nicht, dass die unheilvolle Geschichte nun nachträglich einen Sinn zugesprochen bekommt, nichts wird hier wegerklärt oder verharmlost. Was wirklich ist, wird benannt, zum Teil mit harschen Worten und Vergleichen, die sich genau so anhören wie die kriegstreibende Propaganda von vor achtzig Jahren.
Aber in all dem klingt auch wieder die Große Verheißung an, dass Gott Frieden schafft unter den Völkern und sie alle vereint sein werden in einem Gottesdienst unter dem Segen dessen, der Himmel und Erde gemacht hat und der Gott ist, Mutter und Vater für alle. Dieser Glaube, diese Vision des großen Friedensreiches Gottes, soll die Israeliten aufmuntern, zu träumen, zu hoffen und zu arbeiten – dass es wahr werde!
Liebe in den Zeiten von Corona…
Glauben wir an einen Gott, der wirksam in die Geschichte eingreift? Trauen wir ihm das Gute in unserem Leben und in unserer Geschichte zu, stellt sich sofort die Frage, warum er auch das Böse zulässt. Oder entspricht Krieg, Hunger, Krankheit und früher Tod in irgendeiner Weise, die wir nicht verstehen können, seinem Willen? Hat Gott Corona in die Welt gebracht, um uns irgendetwas zu beweisen, uns irgendetwas zu sagen?
Wenn wir andererseits sagen, Gott handelt nicht in dieser Welt, er lässt den Menschen tun, dem er immerhin einen freien Willen gegeben hat und Vernunft und Moral und ein waches Gewissen – widerspricht das nicht allem, was wir glauben und zerstört letztlich das Vertrauen, das uns durch unser Leben trägt? Wenn Gott nichts tut, wie kann er uns bewahren und beschützen und uns ein guter Hirte und eine Mutter sein? Wenn er uns nicht tröstet, wer tröstet uns dann?
Unser Glaube geht über eine sehr schmale Brücke und ist immer in der Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und zur rechten oder zur linken Seite hinab zu stürzen in einen unfassbaren Abgrund. Hier kann es keine Patent-Antworten geben. Vielleicht ist ja schon die Frage falsch gestellt, die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und wieso er das alles zulässt.
In Israel hat man nicht geglaubt, dass Gott ein fernes, unnahbares Gegenüber ist. Man hat nicht an einen Weltenlenker geglaubt, der fernab von seinen Geschöpfen über einen Touchscreen wischt und das Werden und Vergehen von Welten, Leben und Tod seiner Menschen an einem Computer programmiert. Man hat an die Liebe Gottes geglaubt, an seine brennende Leidenschaft für alles, was lebt, an seinen Zorn und seine Eifersucht, wenn die Seinen ihn vergessen haben, vor allem aber an seine Liebe und an seine Bereitschaft, sich hinzugeben für die, die er in seine Hände gezeichnet hat und die er behüten will wie seinen Augapfel.
Gott wohnt mitten unter den Menschen, lebt in ihrer Mitte, ist in dieser Welt zu Haus – und was wir leiden, leidet er auch. In dem Leben des Jesus von Nazareth ist das für uns Christen offenbar geworden, so deutlich, wie es nur denkbar ist: Er wurde für uns geboren von Maria, der Jungfrau, hat gelitten am Kreuz und ist gestorben, begraben, tot – wie wir es alle einmal sein werden. Selbst diesen Weg alles Sterblichen ging Gott mit.
Er starb, damit wir auch mit ihm auferstehen von den Toten und mit ihm das Leben geschenkt bekommen, das kein Ende hat, weil es Leben bei Gott ist, dem Ewigen, der neben und über und in der Zeit ist. Auf diesem letzten Weg nimmt er uns mit. Damit es Ostern wird.
In hundert Jahr’n ist alles weg…
Ist es vermessen, zu sagen, dass dieser Glaube, der Israel damals zur Zeit des Propheten Jesaja und danach durch Jahrhunderte voller Leid und Verfolgung immer wieder getröstet hat, auch uns tragen und trösten kann? Ist es vermessen, sich dieses Vertrauen zu eigen zu machen, dass Gott Mutter und Vater aller Menschen ist, die an ihn glauben?
Schon Jesaja sagt es, dass spätestens am Ende alle eingeladen sind in den ewigen und immerwährenden Gottesdienst an dem, der alle Tränen trocknet, wenn der Tod nicht mehr sein wird und Leid und Geschrei ein Ende haben, der die Seinen tröstet wir einen seine Mutter tröstet. Es sind alle eingeladen. Auch wir.
Es ist noch nicht zu sehen. Wie die Israeliten nach der Rückkehr aus Babylon vor Trümmern standen und erst langsam erkannten, welch große Möglichkeiten Gott ihnen eröffnete, welch reichen Segen er über ihnen ausgegossen hatte, welche Zukunft er ihnen auftat, so steht auch die Kirche, die Christenheit immer noch am Anfang des Weges.
Das Reich Gottes ist noch nicht greifbar, niemand kann es sehen – aber es hat schon begonnen unter uns, und hier und da blitzt es auf, unsichtbar und nicht zu hören, schon gar nicht zu begreifen – und doch genug für einen festen Glauben, der nicht wankt. Denn wir sind getröstet, heute und immer wieder.
Ab und zu erleben wir auch diesen Moment der Sicherheit, in dem da nichts ist als ein Du und ein Ich, eine Mutter und ihr Kind, die Tröstende und die Getröstete. Gott hat uns eine gute Zukunft verheißen, in der der Tod nicht mehr sein wird und kein Geschrei und kein Schmerz. In hundert Jahr’n, am Ende der Zeit, ist alles weg. Nur die Liebe bleibt. Dass es wahr werde!