In der fünften Klasse war ich der „Neue“. Wir waren gerade aus Braunschweig nach Berlin umgezogen, ich war elf Jahre alt und mir war alles unbekannt und fremd – die Wege zum Bäcker und zum Supermarkt, zur Schule und wieder zurück, zum Schwimmbad und zum Kino… Ich vermisste meine Freunde und meine Großeltern, und ich hatte Angst vor den Kindern in der Schule und auf den Spielplätzen. Ich war schüchtern und leise, und sie waren so selbstsicher und frech, und machten sich gern auf Kosten der Schwachen lustig…
Mehr als einmal lauerten mir einige Typen auf dem Weg zur Schule auf, um zu spotten und zu schlagen, einfach so, ohne Grund. Ich hatte Angst und wehrte mich nicht. Meistens versuchte ich, ihnen aus dem Weg zu gehen, machte Umwege und versteckte mich in Hauseingängen, aber manchmal fanden sie mich doch, schlugen mir die Mütze vom Kopf oder traten mir vors Schienbein…
Ein ganzes Jahr meiner Kinderzeit ging ich nur mit Herzklopfen und Angst zur Schule, wegen zwei oder drei Typen, die sich einen Spaß daraus machten, andere zu quälen.
Meine Eltern sagten zu mir: „Wehr dich, lass Dir doch nicht alles gefallen!“, aber ich war einfach nicht dafür gemacht, zurück zu schlagen; und ich war damals auch nicht schlagfertig genug, den anderen mit einem coolen Spruch den Wind aus den Segeln zu nehmen…
„Wenn Dir einer auf die rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere dar… Wenn Dir einer den Mantel nehmen will, dem gib auch den Schal dazu. Widerstehe dem Bösen nicht…“ sagt Jesus seinen Jüngern und Nachfolgern und damit auch seiner Kirche.
Das ist so ungefähr das Gegenteil von dem, was meine Eltern mir rieten. „Schlag doch mal zurück!“, haben sie mir gesagt, „Setz Dich durch, dann werden sie Dir nichts mehr tun…“
Die Kirche hat sich im Lauf der Jahrhunderte mehr an den Rat meiner Eltern gehalten. Sie verbündete sich mit den Mächtigen und sicherte so ihre eigene Macht; und wenn sie konnte, bedrohte und bedrängte sie Menschen mit einer anderen Meinung und einem abweichendem Glauben – sie warf „Ketzer“ in den Kerker, folterte „Hexen“ und verbrannte „Abtrünnige“ auf dem Scheiterhaufen.
Nur ganz am Anfang der Kirchengeschichte war das anders. Die Gemeinden waren gastfreundlich und hilfsbereit, sie sammelten Geld für Obdachlose und „sozial Schwache“, unterstützten Witwen und Waisen und Heimatlose auf der Flucht. Selbst, wenn sie verfolgt wurden, wehrten sie sich meist nicht, und sie verehrten die Geduldigsten aus ihren Reihen als Glaubenshelden und Märtyrer.
Viele Menschen haben die Gemeinden wohl deshalb verlacht, haben ihre Sanftmut für Angst und ihre Demut für Furcht gehalten, manche haben sie auch ausgenutzt. Ein Schelmenroman aus dem ersten Jahrhundert erzählt von zwei römischen Soldaten, die sich durch halb Europa gaunerten – „wir lebten dabei von den Christen“ schrieben sie, „sie gaben uns kostenlos Speise und Obdach, und für ein paar fromme Worte gaben sie uns den Ehrenplatz an ihrem Tisch…“
Jesus war nicht schwach, aber er nutzte seine Macht nicht… Als die Jünger ihn mit dem Schwert verteidigen wollten, rief er aus: „Meint ihr nicht, mein Vater im Himmel könnte sofort eine Legion Engel zu meinem Schutz senden? Aber wer zum Schwert greift, der wird am Ende durch das Schwert umkommen!“
Jesus setzt andere Maßstäbe: Ihm waren die Schwachen wichtig. Kirche muss da sein, wo Jesus ist. Das erfordert Opferbereitschaft und Mut…
Wir haben oft gehört, dass in der islamischen Welt von „Jihad“ die Rede ist, vom „Heiligen Krieg“. Viele Vorurteile und Missverständnisse machen sich an diesem Wort fest. Worum es aber geht, ist eine Anstrengung des Glaubens, ein mutiger Einsatz, der aus dem Vertrauen auf Gott folgt. Denn ein Glaube, der nichts bewegt, ist kein Glaube.
Die Anstrengung des Glaubens wendet sich aber nicht gegen andere, ist kein Krieg, sondern ist gerade der Einsatz für die Schwachen und Benachteiligten
Heftig wird zur Zeit darüber diskutiert, ob man die Ukraine im Kampf gegen russische Invasoren unterstützen soll, indem man schwere Waffen für den Krieg liefert. Spitzfindig wird um Feinheiten gestritten, weil man Angst hat, zu sehr in den Krieg hinein gezogen zu werden und selbst zum Ziel von Gewalt und „Gegenmaßnahmen“ zu werden. Dabei macht es doch wohl nicht wirklich einen Unterschied, ob man selbst Panzer, Artillerie und Raketenwerfer nach Kiew schickt oder ob man einige Milliarden Euro überweist und das ukrainische Militär dann die schweren Waffen kauft, die es braucht – sei es in Europa oder anderswo. Letztlich kommt dann diese „Entwicklungshilfe“ doch wieder der weltweiten Rüstungsindustrie zugute, die sowieso immer international agiert.
Was würde Jesus tun? Er würde sich wohl zuerst für die Menschen einsetzen, für die Wahrhaftigkeit, für die Wahrheit. Für das Leben. Die Wahrheit stirbt im Krieg immer zuerst; und es ist so schwierig, zu entscheiden, wem man glaubt und wen man noch glauben kann. Natürlich muss sich die Ukrainer verteidigen. Natürlich brauchen sie dazu jede Hilfe, die sie bekommen können. Aber die Wahrheit ist – wenn Europa, die USA oder der „Westen“ Waffen zum Kampf gegen Russland schickt, dann wohl vor allem, um sich so gut wie möglich selbst zu schützen. Um dafür zu sorgen, dass der Krieg dort im „Osten“ bleibt und nicht überschwappt auf das Gebiet der NATO, auf das Gebiet des europäischen Bündnisses. Wenn wir Waffen liefern, sind wir Partei im Krieg, Bündnispartner der Ukrainer, Kämpfer an der Grenze zu Russland. Und wir haben eigene Interessen, die es zu schützen gilt.
Vielleicht muss das so sein. Ich kann es gar nicht wirklich beurteilen. Raushalten können wir uns nicht. Und es ist nur zu leicht, „offene Briefe“ zu schreiben und zu urteilen, das Vernünftigste wäre jetzt, aufzugeben und zu kapitulieren. Zur Zeit sieht es so aus, als kennte der Irrsinn keine Grenze.
Wir sollten nur nicht denken, wir wären nicht schon Partei in diesem Krieg, nicht schon beteiligt am Töten…