Ein Gedicht vom Meer und von den Bergen und von der Liebe

Dem Meer
ist es vielleicht egal
an welche Ufer seine Wellen schlagen
und gleich
welch Wind auf ihm die Wogen
aufwühlt und die Gischt versprüht.


Wohin
das Schiff auch immer fährt,
das nun schon viele Tage segelt
und ob
die Menschen auf ihm heute
die Liebe antreibt oder Hass und Krieg.


Ein Berg,
der in die hohen Wolken
den Gipfel steckt, auch ihm ist es ganz gleich,
ob Schnee fällt,
Blitz und Donner hageln,
ob warmes Licht vom Himmel auf ihn fällt.


Und nicht
berührt sein Herz
das Dorf, wo Menschen wohnen
ob’s lebt
und bleibt an seiner Flanke,
ob morgen schon ein Erdrutsch es verschlingt.


Doch ich
bin nicht das Meer und
nicht ein Berg aus Stein mit kaltem Herz
denn ich
ich lebe und ich fühle
und sie sind tot, und nicht rührt sie ein Schmerz


und Du
bist mir nicht gleich
ich hab mich Dir verbunden
mir ist
es nicht gleichgültig
ob du mich liebst und gerne bei mir bist

Ein Bär von sehr geringem Verstand – zum Geburtstag von Harry Rowohlt

Wenn einer mit Worten umgehen konnte, dann ja wohl er. Ich möchte nicht einmal sagen, dass er – wenn es ums Schreiben geht – mein Vorbild sei, denn wenn ich mir Vorbilder suche, dann solche, die ich auch irgendwann erreichen kann. Harry Rowohlt war ein Virtuose, ein Tänzer, ein Akrobat, ein Künstler auf der Schreibmaschine und auch am Lesepult. Am 27. März 1945 wurde er geboren.

Zuerst kennen gelernt habe ich ihn wie so viele andere auch als Übersetzer des wunderbaren Buches „Pu der Bär“. Das habe ich als Kind nie gelesen, sondern habe ich erst mit ca. 35 Jahren entdeckt, als eine liebe Freundin zu mir sagte: „WAS??? Das kennst Du noch nicht???“ und ich habe es mir dann sofort angeschaft und es dann zuerst auf deutsch und dann noch auf englisch und zuletzt als Hörbuch gelesen bzw. tagsüber und nachts auf dem Kassettenrekorder gehört habe. Die Stimme auf der Kassette ist die Stimme von Harry Rowohlt und auch die Stimme von Pu, dem Bären, die klingt nämlich genau so, und wer was anderes sagt, der hat einfach keine Ahnung und sollte leise weinen, während er in der Ecke steht. So!

Aber Harry Rowohlt hat noch viel mehr übersetzt, andere Kinderbücher wie zum Beispiel „Der Wind in den Weiden“, „Schlimmes Ende“ und „Sie sind ein schlechter Mensch, Mister Gum!“, eine ganze Menge ernsthafter Bücher und schräge Romane für Erwachsene, aber ganz besonders auch die Bücher von Flann O’Brian, einem irischen Schriftsteller aus der Hauptstadt Dublin. Er ist gewissermaßen DIE deutsche Stimme von Flann O’Brian, der also auch klingen muss wie Pu der Bär oder wie Harry Rowohlt, vor allem, wenn er einen in der Krone hat.

Flann O’Brian hat tolle Bücher und Kurzgeschichten und mehrere Zeitungsrubriken geschrieben, die leider in Deutschland viel zu unbekannt sind. Vormittags hat er in einem Büro gearbeitet, in Dublin, und die Nachmittage hat er in einem Pub gesessen, vor einem Glas Stout, und die ganze Zeit hat er sich skurriles Zeug ausgedacht. Zum Beispiel den Roman „Der dritte Polizist“, in dem nicht ein einziger Polizist vorkommt, aber ein Fahrrad, das geklaut wird. „In Schwimmen-Zwei-Vögel“ ist ein Buch mit mehreren Anfängen und mit mehreren Enden: ein Literaturstudent versucht einen Roman zu schreiben und muss erleben, wie sich die handelnden Personen in seinem Roman gegen ihn, den Autoren, verbünden und eine gefährliche Intrige starten. Wem das als Inhaltsangabe zu schwammig ist, der sei daran erinnert, dass ich nur deshalb nicht mehr hier verrate, weil ich die dringende Empfehlung aussprechen will, dies Buch selbst zu lesen. Natürlich in der Übersetzung von Harry Rowohlt.

Sehr viel Spaß haben mir auch die gesammelten Zeitungskolummnen und Kurzgeschichten gefallen, die zum Beispiel unter dem Titel „Trost und Rat“ veröffentlich wurden. Darin gibt es beispielsweise Tips zur „Buchhandhabung“, also Ratschläge darüber, wie man ein Buch so aussehen lässt, als sei es intensiv gelesen und diskutiert worden, während man in Wirklichkeit kaum einen Blick hinein geworfen hat. Aber die Sammlung der Schriften von Shakespeare, Goethe und – um ihn noch einmal zu erwähnen – von Flann O’Brian wirkt doch sehr viel imposanter, wenn die Bücher Eselsohren haben, kleine Zettel mit Lese-Notizen darin stecken, etliche Passagen unterstrichen sind und geistreiche Anmerkungen an den Rand geschrieben wurden. So manche Redensart und Insider-Witze wird man sich angewöhnen, weil sie einfach so gut sind wie nichts, das man sich selbst ausdenken könnte, und man verwendet dann Sätze, die nur Leute verstehen können, die auch Freunde des wortgewaltigen Iren sind. Schluss des Vorhergehenden!

Von Harry Rowohlt gibt es auch zwei Bände mit gesammelten Kolumnen aus der ZEIT. Sie heißen „Pooh’s Corner – Meinungen und Deinungen eines Bären von sehr geringen Verstand“ und bieten einen interessanten Einblick in den Alltag eines Poeten und Übersetzers, der darüber hinaus sehr viel zu sagen hat als Theater- und Film-Kritiker, als Schauspieler in der „Lindenstraße“ und als Agent in eigener Sache auf der Frankfurter Buchmesse. Ich habe Tränen gelacht, war amüsiert und berührt, habe manchmal den Kopf geschüttelt.

Es gibt eine Menge Hörbücher und Mitschnitte von Lesungen, bei denen er unter dem Verbrauch ansehnlicher Mengen von Whiskey und Beer aus seinen Werken und Übersetzungen vorlas und dazwischen Anekdoten und Geschichten aus der Welt der Reichen und Schönen berichtete. Eine Doppel-CD heißt denn auch „Paganini der Abschweifung“ – weil Harry Rowohlt dann am Besten war, wenn er sich von seinem Manuskript gelöst und frei sein Garn gesponnen hat.

Und sogar eine CD mit Geschichten aus der Bibel gibt es von ihm, natürlich liest er nur die Stellen vor, der er selber als „Schweinkram“ bezeichnet. Ich habe aber nie wieder die Schlange aus dem Paradies so schön zischeln gehört – sie klang fasssst genau sssssso aussssgezzzzeichnett wie Ka aus Moglis Dschungel im Zeichentrickfilm.

Harry Rowohlt war von Herzen politisch links und hielt von der Kirche nicht all zu viel – aber er war so klug und sprachgewandt wie kein anderer, und obwohl er nicht an Gott geglaubt hat und Religion für Opium fürs Volk hielt: Er kannte sich in Bibel und Kirchengeschichte hervorragend aus und konnte mit religiösen Symbolen und liturgischen Redewendungen spielen wie die besten Theologen… An ein Leben nach dem Tod hat er wohl nicht geglaubt.

Vor sechs Jahren ist er gestorben und auf einem Friedhof in Hamburg beerdigt worden. Jetzt weiß er es besser…

Hiob: Bretter, die die Welt bedeuten…

In der griechischen Antike, also etwa zu der Zeit, in der das Buch Hiob entstanden ist, spielte das Theater eine große Rolle. Jede Stadt, die etwas auf sich hielt, hatte ein Theater, finanzierte eine Gruppe von Schauspielern, wetteiferte mit anderen Städten darum, die besten Dichter, Sänger, Komödianten und Verfasser von Tragödien in ihren Mauern zu haben.

Theateraufführungen waren populäre Ereignisse, mehr noch als heute. Selbst kleine Theater boten 500 Zuschauerinnen und Zuschauern Platz, und in den Amphitheatern von Athen, Thessaloniki, Korinth und anderem Großstädten versammelten sich bis zu 30 000 begeisterte Menschen, um einem erschütternden Drama oder einer satirisch-bissigen Komödie atemlos zu folgen.

Selbst in den großen Zentren der Medizin wie Epidauros und Olympia verordneten Ärzte kranken Menschen neben Wasserkuren und Massagen, Operationen und Therapien eine Dauerkarte für das Theater. In Epidauros gab es ein Theater mit 25 000 Sitzplätzen, einer großen Bühne mit drei Stockwerken und einer unglaublichen Akkustik – an jedem Platz konnte man sogar geflüsterte Worte von den Schauspielern in der Szene verstehen…

Theater – das verstanden Mediziner und Ärzte damals besser als Psychologinnen und Psychologen heute – kann heilsame Wirkung haben, es kann trösten, es kann erheben, es kann eine reinigende Erschütterung der Gedanken erzeugen, eine Katharsis, die den Heilungsprozess vollendet oder zumindest befördert.

Die meisten Theaterstücke oder Kinofilme, die heute Oskars gewinnen und in den Kritiken hoch gelobt werden, haben ihre grundlegenden Ideen bei einem der antiken Autoren gefunden, und viele dieser alten Stücke sind bis heute bekannt und werden immer noch aufgeführt: die Abenteuer des Odysseus, die tragische Fahrt des Orpheus, der seine Geliebte Frau Euridyke aus dem Totenreich retten will, die überaus satirische Geschichte vom Krieg der Mäuse gegen die Frösche und die Geschichte der klugen Frauen, die ihre kriegslüsternen Männer zum Frieden zwingen, indem sie ihnen denSex verweigern – das sind nur die bekanntesten Geschichten…

Auch das Buch Hiob ist ein solches Stück, obwohl ich nicht weiß, ob es jemals aufgeführt wurde. Aber auch, wenn es immer nur ein Text, in einer Schriftrolle zu lesen, gewesen ist – es hat sicher bei vielen Lesern die gleiche erschütternde Wirkung gehabt wie ein großes Theaterstück oder ein bewegender Film. Es ist sogar ähnlich aufgebaut wie die damaligen Theaterstücke.

Die Bühnen hatten nämlich nicht umsonst drei Stockwerke. Ganz oben spielte sich ab, was im Himmel geschah, in der Sphäre der Götter und Halbgötter, in der Zeus und Hera, Apollon und Athene, Poseidon und Hermes ihre Streitigkeiten ausfochten und ihre für die Menschen oft verhängnisvollen Entscheidungen trafen. Die Menschen spielten auf der Ebene darunter, der eigentlichen Bühne. Hier lagen schon damals die Bretter, die die Welt bedeuten, hier wurde geliebt und gekämpft, geweint und gelacht, gegessen und getrunken, verzweifelt und gestorben, feige verraten und heldenhafter Mut und Treue bewiesen… Und ganz unten findet man die Unterwelt, das Reich der Toten und der bösen, undurchschaubaren und unfassbaren Mächte…

Das Buch Hiob beginnt also wie viele antike Theaterstücke mit einem Vorspiel im Himmel. Gott sitzt auf seinem Thron, umgeben von den himmlischen Heerschaaren, der Chor der Seraphim und Cherubim singt das ewige Lob Gottes und die Engel kommen einer nach dem anderen, um zu berichten, was im Himmel so alles geschieht. Und da kommt auch Luzifer, Satan, der Teufel, dem die Erde anvertraut ist.

Gott fragt ihn, wie es so steht um die Welt der Menschen, um Land und Meer und alles, was da lebt. Und – so fragt Gott mit leichtem Stolz – „Hast Du auch auf meinen Diener Hiob geachtet, der so treu ist und alle meine Gebote hält, ein Vorbild an Frömmigkeit und Gottesfurcht, mein Bester unter den Menschen?“ – „Kunststück!“, antwortet der Teufel, „Hiob ist reich und hat alles, was sich ein Mensch nur wünschen kann, er hat ein wunderschönes Haus, eine liebevolle Frau, prachtvolle Kinder und eine ganze Belegschaft von Dienerinnen und Dienern, die nur darauf warten, seine Anordnungen auszuführen. Kein Wunder, dass er dich liebt und fromm und gottesfürchtig ist. Aber nimm ihm nur ein bisschen davon weg – wetten, Gott, dass er dir dann ins Gesicht spucken wird?“

Photo by Vijay Sadasivuni
(Pexel Stockphotos)

Gott lässt sich auf die Wette ein. Es ist eben ein Theaterstück, irgendwo muss die Spannung, das Drama ja herkommen. Gott gibt dem Satan also freie Hand, und der lässt ein halbes Dutzend Katastrophen über Hiob kommen, und seine Diener kommen, um zu berichten, was geschehen ist – das sind die berüchtigten Hiobsbotschaften: Eine feindliche Armee hat seine Höfe überfallen, seine Diener erschlagen und Rinder, Schafe und Ziegen geraubt. Die große Feierhalle ist eingestürzt und seine Kinder, die dort gerade gefeiert haben, sind alle umgekommen. Seine Felder sind abgebrannt und die Vorräte in den Scheunen sind verfault – nun ist Hiob arm und mittellos.

Aber er bleibt Gott treu, man hört keinen Fluch von ihm. Und so tritt der Satan wieder vor Gott. „Siehst du,“ sagt Gott oben im Himmel, „Hiob bleibt mir treu, obwohl du ihm alles genommen hast. Du hast ihn in tiefstes Unglück gestürzt…“ – „Unsinn!“ erwiedert der Teufel, „Hiob ist ein Mann in den besten Jahren, er ist kräftig und gesund, und immer noch ist er ein geachteter und einflußreicher Mensch, so jemand fällt doch immer auf die Füße. Kein Wunder, dass er dir treu bleibt, noch hat er keinen Grund, zu verzweifeln. Aber nimm ihm seine Kraft, seine Gesundheit, sein bezauberndes Wesen… Wenn von ihm nur noch ein Häuflein Elend übrig ist, dann wird er dich verfluchen…“ Und wieder antwortet Gott: „Er ist in deiner Hand, aber verschone sein Leben.“

Auf dieses Wort hat der Teufel nur gewartet, und er lässt einen Haufen Krankheiten auf Hiob los. Seine Frau ekelt sich vor ihm, die Kinder im Ort lachen ihn aus, seine Diener haben allen Respekt vor ihm verloren. Niemand hört mehr auf seinen Rat, niemand interessiert sich noch für seine Meinung. Nur noch Haut und Knochen, vom Fieber geschüttelt, das Haupt voll Blut und Wunden, als Mann der Schmerzen wartet Hiob auf seinen Tod. Und nun wartet das ganze Theater voller Menschen auf das, was nun geschehen wird. Wird Hiob fallen? Wird er Gott verfluchen? Wird der Teufel am Ende recht behalten?

Im ersten Akt kommen drei Freunde, um Hiob zu besuchen. Sie überwinden Abscheu und Ekel um der alten Zeiten willen, sie setzen sich zu ihm und – schweigen. Sie haben verstanden, dass der Schmerz und die Not Hiobs zu groß ist für Worte, dass es nichts zu sagen gibt, das tröstet oder hilft. Und so sitzen sie bei ihm, tragen seine Trauer mit, ertragen sein Schweigen, ringen mit ihm um Worte, versuchen zu begreifen und zu verstehen, was geschehen ist. Aber da ist kein tieferer Sinn, kein Grund zur Hoffnung, keine Zukunft und kein Licht am Ende des Tunnels… Hiob schweigt, die drei Freunde schweigen, und Gott… schweigt auch.

Aber im Theater kann nicht lange geschwiegen werden, und so fangen die Freunde an, zu sprechen. Sie versuchen nun doch, Begründungen und Ursachen zu suchen, einen Sinn zu finden, wo keiner ist. „Bestimmt hast du doch einmal einen Fehler gemacht, hast dich an Gott versündigt, und darum hast du diese Strafe, dieses Unglück verdient. Gott tut so etwas nicht ohne Grund; du bist selbst schuld daran…“ sagt der erste Freund.

Der zweite sagt: „Hab nur Geduld, du wirst den Sinn deines Leidens schon noch irgendwann erkennen. Alles, was Gott tut, muss doch einen tieferen Sinn haben. Wir wissen nur zu wenig, um ihn zu erkennen, Gottes Wege sind uns verborgen, zu wunderbar und zu hoch…“

Und der Dritte von Hiobs Freunden legt nach: „Wie kannst du nur denken, du könntest verstehen, was Gott tut? Ist er nicht viel höher, größer, wissender als wir Menschen? Wie kannst du überhaupt die Frage stellen, ob das, was er tut, gut und richtig ist? Du bist doch nur ein Stück Ton in der Hand eines Töpfers, nur Geschöpf des Allmächtigen. Es steht dir überhaupt nicht zu, seine Weisheit und seine Gerechtigkeit in Frage zu stellen!“

So versucht jeder von ihnen, für sich den Glauben an Gott zu retten; das Handeln Gottes zu rechtfertigen, einen Sinn zu finden in dem, was höher ist als alle Vernunft. Aber ihren Freund Hiob verlieren sie dabei aus dem Blick. Indem sie die Gerechtigkeit Gottes zu retten versuchen, verurteilen sie Hiob, machen ihn klein, zweifeln seinen Glauben und sein Tun an und machen das Opfer zum Täter.

In drei großen Reden wehrt sich Hiob dagegen. Er klagt seinen Freunden noch einmal sein Leid, damit sie es vielleicht doch noch verstehen: Ihre Worte sind für Hiob noch eine zusätzliche Qual, vergrößern noch seinen Schmerz. Sie verstehen ihn nicht wirklich, können seine Situation nicht nachfühlen.

Er, Hiob, möchte Gott verklagen, ihn vor Gericht stellen, von ihm Gerechtigkeit fordern. Es ist nicht gerecht, dass es ihm, dem Frommen, so schlecht geht. Es ist nicht gerecht, dass ihm alles genommen wurde. Es ist nicht gerecht, dass er nun krank und verachtet und unter Schmerzen auf sein Ende warten muss. Wie kann Gott gut und allwissend, mächtig und gerecht sein, wenn er dies alles zu lässt, wenn er nicht aufsteht und eingreift, wenn er Hiob nicht ansieht und sich nicht zeigt – er, der doch Israels Hilfe und sein Trost ist. Ist er nicht doch nur eine Art gleichgültiges Schicksal, das blind zuschlägt und kein Interesse dafür hat, wen es trifft?

„Richte mich, Gott, und verschaffe mir Recht vor den üblen und bösen Leuten!“ So klagt Hiob, so nimmt er aber auch Gott in die Pflicht. Er will Gott als Richter anerkennen, will ihn aber auch ins Kreuzverhör nehmen. Er soll sich seiner Klage stellen – nur so wird Hiob bereit sein, ihm zu vergeben und darin auch selbst Vergebung zu finden. Nur so kann auf beiden Seiten die Gerechtigkeit wieder hergestellt werden und der Friede neu geschlossen werden, der gebrochen war. Nur so wird er sich als Erlöser, als Anwalt, als Fürsprecher und Beistand zeigen.

Gott soll sich sehen lassen, Hiob will von ihm berührt werden. Die Hand, die ihn so hart geschlagen hat, soll ihn nun auch wieder heilen. Der geschundene Leib und die zerbrochene Seele soll wieder heil werden dadurch, dass sich Gott den Klagen des Gerechten nicht entzieht.

Das Wunder geschieht erst am Ende. Obwohl es ein Drama ist, das wir auf dieser Bühne erlebten, hat es für Hiob ein Happy End. Hiob wird wieder gesund, er bekommt seinen Reichtum erstattet, Söhne und Töchter werden ihm geboren. Er hat sein gutes, sein richtiges Leben zurück.

Seine letzte Rede schließt mit einem Glaubensbekenntnis. „Ich hatte von Dir nur vom Hörensagen vernommen, aber nun hat mein Auge dich geseh’n.“ Seine Hoffnung hat sich erfüllt: „Ich werde ihn mit meinen Augen sehen und er wird für mich kein Fremder sein. So wird es sein, auch wenn ich schon halb tot bin.“

Oft wird das Buch Hiob so gelesen, dass es das Leiden des Christus vorweg nimmt, der ja auch als Gerechter ohne eigenes Verschulden gelitten hat und am Kreuz starb. Ich verstehe es aber anders herum: So wie Gott sich am Ende Hiob gezeigt hat, dass er ihn mit eigenen Augen erkannte, so ist er in Jesus Christus zu den leidenden Menschen gekommen, hat sich sichtbar und greifbar gemacht, ihr Leiden geteilt. So getröstet können sie nun auch beten: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Er ist auf die Erde gekommen, er wird unsere Schuld auf sich nehmen. „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Der Brustpanzer des Heiligen Patrick

Am 17. März ist der Tag des Heiligen Patrick. Er hat das Christentum nach Irland gebracht und dort eine ganz eigene Form der Spiritualität entwickelt, die die Kirche und eigentlich das ganze Denken und Fühlen der Menschen auf der grünen Insel bis heute prägen. Bis heute wird er als Nationalheiliger verehrt.

Es gibt sehr wenig zuverlässige Berichte über die Herkunft und das Leben des Heiligen, die wichtigste Quelle ist eine Art Autobiographie, die er selbst unter dem Titel confessio (Bekenntnis) veröffentlicht hat. Es gibt aber Forscher, die überzeugt sind, dass sich in den Berichten und Legenden um St. Patrick Fakten aus dem Leben mehrer Geistlicher vermischt haben, die in dieser Zeit in Irland wirkten.

Anfang des 5. Jahrhunderts wurde St. Patrick von Papst Coelestin von Wales aus nach Irland geschickt, wo zu dieser Zeit noch die alte keltische Naturreligion vorherrschend war. Er stammt aus einer Soldatenfamilie und war von Kindheit an mit dem Christentum vertraut, kannte aber auch die heidnischen Gebräuche und Lehren seiner keltischen Umwelt. Als erster Bischof von Irland soll er hunderte Kirchen und Klöster gegründet haben, einflussreiche Persönlichkeiten haben sich durch seine Predigten bekehren lassen und sind zum Christentum übergetreten. Später sind viele Wundergeschichten und Legenden über Patrick erzählt worden, unter anderem soll er durch seine Worte und unter Anwendung seines Bischofsstabes alle giftigen Schlangen von der Insel vertrieben haben.

Von Irland aus über eine Zwischenstation in Schottland sind Missionare nach Mitteleuropa zurück gekommen und haben hier im 7. Jahrhundert in einer „zweiten Welle“ die in den Wirren der Völkerwanderung verloren gegangenen Gebiete rechristianisiert.

Heute wird der Tag des Heiligen in Irland und noch mehr in den irischen Gemeinschaften in den Vereinigten Staaten ganz groß gefeiert: die Menschen schmücken sich und ihre Häuser mit grünen Kleeblättern, dem Nationalsymbol 🍀 Irlands, dem shamrock. (Patrick soll mit Hilfe des dreiblättrigen Klees den Iren die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes erklärt haben.) Natürlich wird auch jede Menge Guinness getrunken – sogar Kinder dürfen an diesem Tag einen Schluck davon probieren, der irische Whisky bleibt aber den Erwachsenen vorbehalten. Und in den „Singing Pubs“ spielen bekannte Musikanten zusammen mit den erstaunlich vielen Hobbymusikern die fröhliche volkstümliche Musik mit Tin-Whistle, Fiddle und der irischen Handtrommel, dem Bodhrán.

In einigen Städten in den Vereinigten Staaten ist die Begeisterung für diesen Tag so groß, dass sogar Flüsse grün eingefärbt werden. Auch die alten Sagengestalten wie Leprachauns und Faee und das „kleine Volk“ spielen an diesem Tag eine Rolle – vor allem Kinder verkleiden sich an diesem Tag gerne, und auch viele Erwachsene schminken sich Wangen, Lippen und Augenlider mit grüner Farbe und Glitter…

Auf St. Patrick soll auch eine besondere Form des Gebets zurück gehen. Die lorica, das Schutz- und Segensgebet, das in der irischen Spiritualität verbreitet ist, geht auf vorchristliche keltische Tradition zurück und wurde von Patrick in seine Liturgie aufgenommen. Das Wort lorica bedeutet Brustschild oder Brustpanzer und kommt aus der militärischen Sprache. Wie der Brustpanzer des römischen Soldaten soll dieses Gebet, das in der Regel als Hymne gesungen wurde, den Betenden vor allem Bösen schützen und bewahren. Auch der Apostel Paulus hat im neuen Testament diese Metapher verwendet.

Auf diesem Hintergrund sind auch die in manchen europäischen christlichen Gemeinden beliebten „irischen“ Segenssprüche zu verstehen. „Möge der Wind in deinem Rücken sein, möge die Sonne dir scheinen und der Weg für dich leicht sein…“ Die Formulierungen dieser Segenssprüche sind immer ähnlich und in ihrer Intention vergleichbar. Manchmal werden die guten Wünsche um Schutz sehr explizit: „Möge der Engel Gottes um dich herum wachen, wenn böse Menschen über dich herfallen, möge er dir den Rücken frei halten von ihren hinterhältigen Angriffen…“ Diese Bilder passen doch eher in die gefährlichen Jahrzehnte der Verfolgung eine jungen Kirche während des missionarische Aufbruchs in einem fremden Land mit anderer Tradition und Kultur als in die immer noch geschützten und privilegierten Situationen der Gemeinden in Deutschland.

Lesen im Lockdown – Bücher für April

T.C.Boyle: Sprich mit mir

Carl Hanser Verlag, 352 S. ca. 25 Euro

Der Mensch ist die Krone der Schöpfung – davon sind immer noch Viele überzeugt, und sie handeln entsprechend und benutzen Tiere und andere Lebewesen zu ihrem Nutzen und eigenen Vorteil. Dabei sind die Grenzen längst fließend und die Unterschiede umstritten.

Dieses Buch stellt radikale Fragen und zeichnet in einem spannenden „Was wäre, wenn…“ das Bild einer kleinen Welt, in der alles anders ist: Wenn z.B Affen als gleichwertig angesehen würden – was würde das bedeuten für Menschenrechte, Beziehungen, moralische Bewertungen und das politische Handeln?

Ein „page-turner“ der besonderen Art für lange Abende mit verregneten Aprilwetter und Gesprächsstoff für die ersten (vegetarischen?) Grillfeste im Garten…

Elke Heidenreich: Alles kein Zufall

Fischer Taschenbuch, 240 S., ca. 11 Euro

Viele kurze Skizzen mitten aus dem Leben, nachdenklich oder skurril, humorvoll und mitfühlend erzählt, liebevoll oder mit rollenden Augen berichtet – in diesem Buch ist das bunte Durcheinander unserer Zeit gekonnt gemischt. Für Menschen, die Blogs lesen oder schreiben ein vertrautes Format.

Erich Kästner: Sonderbares vom Kurfürstendamm

Atrium Verlag, 160 S., ca. 14 Euro

Zurück in die Vergangenheit: Erich Kästner schreibt mit spitzer Feder Geschichte aus dem Berlin der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Er beobachtet genau und berichtet schonungslos von den Eigenarten der Menschen in der Stadt, die sich damals wie der Nabel der Welt fühlte – und die dabei so viel gemeinsam hat mit den Begebenheiten in diesem Jahrzehnt.

Benjamin Labatut: Das blinde Licht

Suhrkamp Verlag, 187 S., ca. 22 Euro

Fünf Szenen aus dem Leben der großen Wissenschaftler des letzten Jahrhunderts. Treffend beschrieben und dabei erhellend überzeichnet – auch die Großen können sich irren, auch das Licht der Vernunft und der Wissenschaft ist manchmal blind. Oft fallen Leben und Werk auf faszinierende und erschreckende Weise auseinander. Ein Buch, das nachdenklich macht und dazu anregt, ähnliche Muster auch im Werk der großen Denker unserer Zeit zu finden…

Ist Schönheit ein Ort, an dem man wohnen kann?

Diese Frage habe ich als Werbung auf einem Plakat in einem Laden einer Parfümeriekette in Hamburg gesehen. Irgendwie haben diese Worte mich irritiert; sind hängen geblieben irgendwo im Unterbewusstsein… Hier in Berlin habe ich das Plakat nicht wiederfinden können, und auch im Internet finden die Suchmaschinen dazu keine Treffer (noch nicht). Vielleicht war dem Verantwortlichen die Frage doch zu kompliziert und vielschichtig, zu philosophisch, um eine deutschlandweite Marketingkampagne darauf zu bauen.

Aber mich lässt die Frage seitdem nicht wieder los. Was ist Schönheit?

Ist sie eine Eigenschaft von Personen oder Dingen, so wie der Sprachgebrauch es nahe legt? Dann wäre Schönheit ein beschreibbares Merkmal, das sich erklären ließe mit Begriffen wie Ebenmäßigkeit, Symmetrie, Verhältnisse von Proportionen und so weiter. Wissenschaftler und Künstler haben das seit Anfang an versucht, seit es Wissenschaft und Kunst gibt; trotzdem ist die Schönheit weitgehend ein Geheimnis geblieben.

Ist Schönheit nicht viel mehr eine Qualität, die in der Beziehung eines wahrnehmenden Menschen zu den Dingen steckt, die er schön findet: etwa, weil sie ihn an angenehme Erfahrungen erinnern, weil sie seinen Geist und seine Phantasie anregen, weil sie ihn anziehen und er sie attraktiv findet?

Schönheit wäre dann nur zum Teil etwas, das alle Menschen in den gleichen Dingen erkennen; so unterschiedlich, wie wir sind, sind dann auch die Dinge, die wir schön finden… „Schönheit liegt im Auge des Betrachters…“ Auch dieser Spruch ist ja nicht wirklich neu.

Aber was bedeutet das? Schönheit ist dann nichts Äußeres, sondern etwas Inneres in uns, die wir die Dinge betrachten… Sind wir selbst also mit unseren Erfahrungen, Vorlieben, Hoffnungen und Abneigungen, die Dinge schön oder hässlich machen? Könnten wir uns dann bewusst entscheiden, etwas schön zu finden? Können wir „lernen“, etwas für gut und richtig – also für schön – zu halten, so wie wir uns beim Essen beispielsweise an einen fremden Geschmack gewöhnen können?

Ich frage mich: ist ein Satz wie „Schönheit ist ein Ort, an dem man wohnen kann“ überhaupt sinnvoll? Was fasziniert mich nur so daran? Kann es eine topographische, eine orts-beschreibende Annäherung an das Phänomen der Schönheit geben? Und wo wohnt man dann, wenn man in der Schönheit wohnt?

Und die Frage von dem Plakat geht mir weiter nach: Schönheit, in der man wohnen kann… Wäre das nicht eher Werbung für ein Möbelhaus, für ein Architekturbüro?

Ich habe mich in den letzten Monaten mit dem Thema „Raum“ beschäftigt, auch mit der Frage nach Schönheit in der Architektur.

Die Schönheit wie auch die Symbolkraft der Architektur einer Kirche z. B. beeinflusst sehr stark das Leben der Gemeinde, so wie die Veränderung einer Wohnung das ganze Privatleben verändern kann… Wo man wohnt, ist eben nicht egal; und Heinrich Zille hat einmal gesagt: „Mit einer Wohnung kann man einen Menschen töten wie mit einer Axt.“

Ich denke, dass es gut ist, sich ganz bewusst mit schönen Dingen zu umgeben, sich in Schönheit „einzurichten“, darin zu „wohnen“, auch wenn man oft die Grundstruktur seiner Wohnung, seiner Nachbarschaft, seines Lebens nicht so einfach ändern kann.

Mir sind zwei Ideen besonders wichtig: Ich fand, das es in der Mathematik und in der Physik eine ganz besondere Form von Schönheit gibt.

Nichtmathematikern kann man das nur schwer erklären, aber ein guter Beweis oder eine auf interessante Weise symmetrische Gleichung haben für mich einen hohen Reiz. (ja, ich weiss, das ist sehr „nerdy“…)

Ich meine zum Beispiel so etwas…

Die Eulersche Identität


Das ist die „Eulersche Identität“; bei Wikipädia findet man einen guten Artikel dazu, da wird auch erklärt, wie man diese Gleichung beweist. Als ich sie zum ersten mal gesehen habe, habe ich aber gedacht: „Das ist so SCHÖN, das MUSS einfach wahr sein…“ Die großen „Grundwahrheiten“ der Mathematik, ihre großen „Geheimnisse“ sind hier in einer einzigen Gleichung vereint.

Für mich ist diese Gleichung wie eine Ikone, große Kunst, wie ein Licht auf eine verborgene Wahrheit hinter den sichtbaren Dingen…

Auch bei Menschen ist es oft eine Art „inneres Licht“, das sie schön macht – der Reichtum der Empfindungen, die Lebendigkeit der Gesten und Ausdrucksformen, eine Stimmigkeit des gesamten Eindrucks und eine glitzernde, echte Freude am Leben, all das macht für mich einen Menschen schön.

Und das kann man nicht mit Produkten aus der Parfümerie erreichen…

Unvorbereitet

Auf ein Mal…

…packt mich unbändige Lust, etwas zu schaffen. Mit meinen Händen. Etwas zu basteln, zu schnitzen, zusammen zu kleben, etwas anzumalen oder aneinander zu löten. Schrauben, hobeln, hämmern. Falten und schneiden. Erhitzen, schmelzen, feilen oder meißeln. Irgendetwas zu tun mit einem Ergebnis, das man auch morgen und in einer Woche noch sieht, etwas, das bleibt…

Ich will aber nicht den Keller aufräumen oder die Wäsche bügeln. Das ist mir heute zu banal. Ich möchte auch kein Bild malen oder Origami machen, das werfe ich auch in spätestens drei Tagen weg, denn ich kann nicht gut genug malen, dass ich etwas schaffen könnte, das es wert wäre, hier aufgehängt zu werden. Die Wände sind sowieso alle voll mit Bildern oder Bücherregalen. Für Origami habe ich kein Bunt-Papier da…

Ich will nicht Sodoku-Aufgaben lösen und keine Kreuzworträtsel füllen, ich will nicht den High-Score bei „elite dangerous“ knacken, nicht schon wieder Online-Schach spielen und eigentlich auch nichts in mein Blog schreiben. Das ist mir alles heute zu elektronisch, zu digital, zu virtuell.

Eine Kerze würde ich gern verzieren, mit buntem Wachs und Gold, aber ich habe keine schöne Kerze da, und die Wachsblatten sind auch schon zwei Jahre alt, im letzten heißen Sommer haben sie sich alle aneinander geklebt, außerdem waren es sowieso nur Reste von der letzten Konfirmandenfahrt. Ich habe keinen Gips und keinen Ton hier zu Hause, um etwas zu formen. Einen Kuchen könnte ich backen, aber es ist Fastenzeit, und da wollen wir auf zuviel Zucker und Kalorien verzichten…

Die Lötpistole und etwas Draht habe ich im Keller, aber nichts, um ein Radio oder ein elektrisches Blinklicht zu bauen – als Teenie habe ich das gern gemacht, aber den ganzen Elektronik-Kram habe ich schon vor einem Jahrzehnt weggeworfen. Ein Stück Holz könnte ich verzieren, aber das versaut den Lötkolben, und einen „Brenn-Peter“ habe ich nie besessen.

Ein paar verzweifelte Monate in meiner Studentenzeit habe ich mal gehäkelt, aber weder Nadeln noch Wolle sind da. Auch kein Puzzle, kein Mosaik, keine LEGO-Steine.

Blumen umtopfen kann ich auch nicht – keine Erde, keine Pflanzen, keine Blumentöpfe…

Nicht mal einen Teller bunte Knete hab ich hier. Ich bin total unvorbereitet für jede spontane Kreativität.

Morgen gehe ich einkaufen. Das passiert mir nicht wieder.

Ein Augenblick Gott

Gott kann man nicht sehen

Wie schön wäre es, wenn man Gott sehen könnte; wenigstens für einen Moment, für einen Augenblick. Wenn man sehen könnte, wo er ist und was er gerade macht. Wenn wir sicher sein könnten: Er ist da, ganz in unserer Nähe. Er hat uns nicht vergessen, er ist nicht weit weg. Trotz allem, was uns traurig macht, müde, wütend; trotz allem, was uns und andere Menschen verletzt und traumatisiert, trotz allem, was uns hilflos macht – Gott ist da, ganz nah. So, wie eine Mutter bei ihren Kindern ist, sie trösten und umarmen kann, wenn die Tränchen kullern. Gott ist da. Wir könnten ihn ja sehen. Immer, wenn wir ihn brauchen.

Wie schön wäre es, wenn man Gott sehen könnte; ein Leben lang wissen dürfte, er ist da! Kein Zweifel würde uns mehr belasten; in jeder Not wüssten wir, wohin wir uns wenden könnten. Gemeinsam könnten wir das Abenteuer des Lebens bestehen und uns immer auf der sicheren Seite wissen. Denn Gott ist da, das Ziel unseres Lebens haben wir klar vor Augen – wie könnten wir uns dann verirren? Wie sicher könnten wir uns fühlen, wie frei von Angst und Sorge wäre unser Dasein!

Wir glauben an das, was man nicht sieht

Wie schön wäre es, wenn man Gott sehen könnte. Wäre das schön? Wenn wir immer wüssten, wo er ist, wüssten wir ja auch, wo er nicht ist. Wenn wir sehen könnten, was er gerade tut, wüssten wir ja auch, was er gerade nicht tut. Und wir würden ahnen, wie viele Menschen in diesem Moment verlassen und einsam sind, weil Gott beschäftigt ist – wenn er hier ist und wir ihn sehen könnten, wäre er in diesem Moment nicht im Flüchtlingslager auf Lesbos in Griechenland, er wäre nicht in den zerstörten Häusern und bei den hungernden Kindern im Jemen, er wäre nicht in den Schlafzimmern der besorgten Menschen, die wegen Corona um ihren Arbeitsplatz fürchten und er wäre nicht auf den Intensivstationen, wo Ärztinnen und Ärzte um jedes Leben kämpfen. Er wäre hier und nirgends sonst.

Gott wäre beschränkt und begrenzt auf meinen Horizont. Nichts Undenkbares, nichts Unfassbares würde geschehen. Was meine Phantasie sich nicht erdenken könnte, würde Gott auch nicht tun. Und schon gar nicht wäre er überraschend, faszinierend, verstörend, finster oder schrecklich. Ihm würde alles fehlen,  was ihn heilig macht… Er wäre zwar menschlich und nah, aber nicht mehr göttlich. Er wäre nur so wie mein imaginärer Freund, der mich durch manche schwere Tage meiner Kindheit begleitet hat.

Was keines Menschen Auge je gesehen…

Wir verkünden Euch, was keines Menschen Auge je gesehen hat, schreibt Paulus. Gott ist so ganz anders, als alles, was wir uns vorstellen können. Gott ist nicht von dieser Welt. Unbegreiflich ist er für unsere Hände und auch für alles andere, was Hände hat. Unsichtbar ist er für alle Augen dieser Erde, auch für hochauflösende Kameras und Superzeitlupen. Keiner unserer Sinne hat ihn erfasst. Was keines Menschen Auge je gesehen, das verkünden wir euch! schreibt Paulus.

Predigerinnen und Pastoren scheinen das zur Zeit manchmal zu vergessen, dass Gott immer ganz anders ist, als wir uns das denken und als wir es gern hätten. Ja, er ist gut und gnädig,  aber in seiner Güte und Barmherzigkeit ist er uns auch fremd und fern. Er ist treu und verlässlich wie der gute Hirte, aber er ist auch fordernd und streng wie der Weingärtner, der die Reben beschneidet, die keine Frucht bringen, der auch die Mauern des Weinbergs niederreißen lässt,  wenn die Trauben immer wieder sauer werden und die Ernte verworfen werden muss.

Und andererseits ist er uns gerade in seiner unfassbaren Verborgenheit nah. Immer,  wenn ich denke, dass ich Gott gar nicht mehr verstehe,  drängt er sich gewissermaßen auf, überrascht mit Zärtlichkeit und Liebe,  sieht mich an und sagt zu mir „Du“ wie ein vertrauter Freund.

Ein Blick von oben und ein Blick von unten

Wie sollten wir denn auch glauben, was wir gesehen haben? Was wir sicher wissen, das müssen wir nicht mehr glauben. Was wir gesehen haben, bleibt für uns greifbar, verstehbar, mitteilbar. Wenn der Glaube aus dem Sehen kommt, könnten wir ihn anderen erklären, wir könnten sie mit vernünftigen Argumenten überzeugen, dass sie Gott vertrauen müssen. Glaube aber, so schreibt es der Verfasser des Briefs an die „Hebräer“, ist ein festes Vertrauen auf das, was wir nicht sehen…

Denn auch unsere Augen lassen sich täuschen – sehr leicht sogar. Jesus hat seine Jünger gewarnt: Wenn jemand euch sagt: „Hier ist Gott!“ oder „Da ist er!“, „Dort könnt ihr ihn sehen!“ oder „Kommt hier her!“ – glaubt ihnen nicht, geht auch nicht hin, sie wollen euch verführen. Gott ist wie ein Blitz am Himmel, von allen Enden der Erde aus sichtbar. Er wird sich euch zeigen, und ihr werdet es wissen.

Nicht von oben her, nicht aus eigener Kraft erkennen wir Gott. Alle wissenschaftliche Forschung, auch die Theologie, selbst Meditation und Gebet und alle geistlichen Übungen verfehlen Gott, wenn sie versuchen, ihn sich auf ihre Art verfügbar und greifbar zu machen. Wer hochmütig einen Turm baut, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, findet über den Wolken nur Leere, bis seine Sprache und sein Denken sich verwirrt und für alle anderen Menschen unverstehbar wird. Auch so wahrt Gott sein Geheimnis.

Nur in Demut, gewissermaßen von unten her, lässt Gott sich erkennen. Diese Position kann man aber nicht suchen, nicht absichtlich herbei führen. In die Wüste des Lebens findet man nicht selbst hinein – wer würde das schon wollen? In die Wüste des Lebens wird man geführt. Dort aber ist Gott nicht fern, dessen Wesen es ist, dass er sich hinunter beugt zu den Geringen und der die ansieht, die dem Tod nahe sind.

Der Mensch sieht, was vor Augen ist

Was uns zur Verfügung steht, was wir sehen und begreifen, einplanen und verwalten können, das ist nicht Gott. Gott ist, was uns fremd ist, was unerwartet kommt. Gott ist, was überrascht und nicht geplant werden kann. Gott ist uns fern und manchmal überraschend nah.

Moses soll Gott gesehen haben, so steht es in der Bibel. Er hat ihn gesehen – von Angesicht zu Angesicht, wie ein Freund einen anderen ansieht. Adam soll Gott gesehen haben, seinen Schöpfer, und auch Eva natürlich, damals im Paradies. Aber sonst hat niemand ihn jemals gesehen. Er hat sich immer verborgen – in Rauchsäulen aus Wolken und Feuer, in blendendem Licht und finsterster Dunkelheit. Größer als Galaxien und winziger als die Bruchstücke der Atome, fern von dieser Welt und verborgen in ihrer innersten Mitte, wo unsere Meßgeräte und Sensoren ihn niemals finden werden. Gott hat sich versteckt. Niemand hat Gott je gesehen, außer dem Sohn Gottes selbst.

Ein Augenblick Gott

Von Abraham, dem Stammvater Israels, wird erzählt,  dass er zwei Söhne hatte: Ismael, geboren von Hagar, der Sklavin seiner Frau, und Isaak, den Sohn von Sara, seiner Ehefrau. Nach einigen spannungsvollen Jahren sieht Abraham sich genötigt,  Hagar und seinen Erstgeborenen zu verstoßen. In der Wüste finden die Sklavin und ihr Sohn eine kleine Oase, einen Brunnen. Dort hat sie eine Begegnung mit Gott. Er verspricht ihr, dass sie – wie Abraham – viele Nachkommen haben wird, dass sie – wie Sara – die Urahnin eines großen Volkes sein wird. So soll sie Anteil haben an dem Segen Gottes, den er auf Abraham gelegt hat. Was genau zwischen ihr und dem Herrn der Welt geschah, wird ihr Geheimnis bleiben; aber hinterher bekennt sie: an diesem Ort hat der HERR  mich gesehen.

Du bist ein Gott der mich sieht

Du bist ein Gott, der mich anschaut… Auch Abraham selbst hat diese Erfahrung gemacht. Er, der die Sklavin seiner Frau und ihren Sohn in die Wüste geschickt, wurde von Gott aufgefordert, auf dem Berg Horeb seinen Sohn zu opfern. Schon war das Holz für das Brandopfer aufgeschichtet, bereit für die zündende Fackel, schon lag Isaak gefesselt auf dem Holz, schon war das Messer in Abrahams Hand – da rief Gott ihm zu: „Tu ihm nichts! Ich habe Dich gesehen!“

„Dies ist der Berg,  an dem der Herr sieht…“ So sprach Abraham, und so hat man diesen Berg noch Jahrhunderte später genannt.

Wie sehr sich die Geschichten gleichen! Hagar am Brunnen, Abraham auf einem Berg – beide werden in letzter Sekunde gesehen und gerettet. Der „Gott, der sieht“ hat eingegriffen.

Wichtiger als die Sehnsucht, Gott zu sehen, ist die Gewissheit, dass Gott die Menschen sieht. Denn Gott sieht nicht nur, was vor Augen ist, er sieht das Herz an. Er sieht vor allem auf die Menschen, die in Not und Verzweiflung sind wie Hagar. Er sieht auf die Menschen in der Wüste ihres Lebens wie Jakob, der vor seinem Bruder flüchten musste. Er sieht auf Menschen wie Hiob, die an einem Punkt angekommen sind, wo sie buchstäblich in der Asche sitzen und ihre Wunden aufkratzen…

Wenn Gott sieht, heißt das nicht nur, dass Gott einen Menschen erblickt. Die hebräische Vokabel ra’ah „sehen“ ist wie auch im Lateinischen, im Englischen und im Deutschen eng verwandt mit den Worten providere und to provide, also „voraussehen“ und „versehen“, also mit „vorbereiten und versorgen“. Der „Gott, der sieht“ ist der Gott, der versorgt, der sich darum kümmert, dass das Nötige vorhanden ist – ein Widder, der an der Stelle Isaaks geopfert wird, Wasser für den Sohn der Hagar, ein großartiger Segen für den flüchtenden Jakob, Brot und Wasser für den Propheten Elia und die Witwe von Sarepta, Zukunft und Hoffnung für Hiob, der seinen Glauben nicht aufgibt trotz aller Not.

Nichts zu sehen…

Jesus hat gesagt: „Wer mich sieht, der sieht auch den Vater.“ Gott hat durch ihn den Menschen gezeigt, wie er ist. In ihm ist er selbst zu den Menschen gekommen. Aber auch in dieser letzten Offenbarung war er noch verborgen und verhüllt. „Wir haben ihn gesehen,“ so heißt es in einem Psalm, „aber da war nichts, das man gern sieht; kein Glanz und keine Herrlichkeit, nichts Erhabenes und nichts Schönes. Zerschlagen und vernichtet war er, ein gebrochener Mensch…

Erst unter dem Kreuz hat ihn der Hauptmann der römischen Soldaten erkannt und konnte sehen, wer er in Wahrheit war: „Ja, wirklich – dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen…

Im Gekreuzigten hat Gott sich verborgen; und die Menschen, die nur sehen, was offen vor Augen ist, haben ihn nicht erkannt. Sie haben göttliche Macht und himmlischen Glanz an ihm gesucht – und so konnten sie nicht wahrnehmen, dass das Leben hier im Tod gesiegt, dass die Hoffnung sich in der Verzweiflung vollendet hat. Im Gegenteil des Erwartbaren hat Gott sich versteckt. Was keines Menschen Auge je gesehen, das hat Gott denen vorbereitet (providere!), die ihn lieben.

Durch den Horizont geschaut…

In einem Kalender mit Geschichten aus der christlichen Mission stand ein Bericht – wenn es nicht wahr ist, so ist’s doch gut erfunden – über ein Ehepaar, die als Missionare nach Papua-Neuguinea gezogen sind, um dort eine medizinische Versorgung aufzubauen. Zugleich hatten sie den Auftrag, die Bibel in die Landessprache zu übersetzen. Nach einiger Zeit bekam das Ehepaar ihr erstes Kind. Natürlich freuten sie sich sehr darüber. Ebenso die Einheimischen, die dieses kleine weiße Baby bestaunten.

Doch dann erkrankte das Kind und starb schließlich an einer Infektion. Voller Trauer zimmerte der Vater mit eigenen Händen den Sarg für sein Kind und beerdigte es im Dorf. Die Einwohner schauten ihm zu, beobachteten alles ganz genau. Schließlich fragte einer von ihnen den Vater: „Dein Sohn ist gestorben. Werdet ihr jetzt weggehen?“ Auf die Antwort des Vaters, sie würden bestimmt in dem Ort bleiben antwortete dann der Mann: „Aber dann werdet ihr vielleicht auch noch krank werden und sterben!“ „Da machen wir uns keine Sorge. Wir sind in Gottes Hand, genau wie unser Kind.“

Diese Haltung ließ den Einheimischen nicht los. Er dachte lange nach und sagte schließlich: „Was seid ihr Christen doch für seltsame Menschen! Ihr fürchtet den Tod nicht, und ihr könnt durch den Horizont sehen!“ Dabei fiel dem Missionar ein, dass er schon lange versucht hatte, das Wort „Hoffnung“ in die Papua-Sprache zu übersetzen, die den Begriff nicht kennt. Jetzt hatte er ihn gefunden. Hoffnung bedeutet, ‚durch den Horizont sehen‘.

Du bist ein Gott, der mich anschaut!“ In diesem Glaubensbekenntnis ist das Vertrauen formuliert, dass Gott gerade in schweren Zeiten da sein wird. Er ist es, der durch den Horizont schaut, auch durch den letzten, der der Tod ist. Das Weizenkorn, das nicht in die Erde fällt, bleibt allein. Wenn es ausgesät wird und „stirbt“, bringt es viel Frucht. So kommt das Leben durch den Tod hindurch ans Licht. So hat Hoffnung einen festen Grund.