Gott kann man nicht sehen
Wie schön wäre es, wenn man Gott sehen könnte; wenigstens für einen Moment, für einen Augenblick. Wenn man sehen könnte, wo er ist und was er gerade macht. Wenn wir sicher sein könnten: Er ist da, ganz in unserer Nähe. Er hat uns nicht vergessen, er ist nicht weit weg. Trotz allem, was uns traurig macht, müde, wütend; trotz allem, was uns und andere Menschen verletzt und traumatisiert, trotz allem, was uns hilflos macht – Gott ist da, ganz nah. So, wie eine Mutter bei ihren Kindern ist, sie trösten und umarmen kann, wenn die Tränchen kullern. Gott ist da. Wir könnten ihn ja sehen. Immer, wenn wir ihn brauchen.
Wie schön wäre es, wenn man Gott sehen könnte; ein Leben lang wissen dürfte, er ist da! Kein Zweifel würde uns mehr belasten; in jeder Not wüssten wir, wohin wir uns wenden könnten. Gemeinsam könnten wir das Abenteuer des Lebens bestehen und uns immer auf der sicheren Seite wissen. Denn Gott ist da, das Ziel unseres Lebens haben wir klar vor Augen – wie könnten wir uns dann verirren? Wie sicher könnten wir uns fühlen, wie frei von Angst und Sorge wäre unser Dasein!
Wir glauben an das, was man nicht sieht
Wie schön wäre es, wenn man Gott sehen könnte. Wäre das schön? Wenn wir immer wüssten, wo er ist, wüssten wir ja auch, wo er nicht ist. Wenn wir sehen könnten, was er gerade tut, wüssten wir ja auch, was er gerade nicht tut. Und wir würden ahnen, wie viele Menschen in diesem Moment verlassen und einsam sind, weil Gott beschäftigt ist – wenn er hier ist und wir ihn sehen könnten, wäre er in diesem Moment nicht im Flüchtlingslager auf Lesbos in Griechenland, er wäre nicht in den zerstörten Häusern und bei den hungernden Kindern im Jemen, er wäre nicht in den Schlafzimmern der besorgten Menschen, die wegen Corona um ihren Arbeitsplatz fürchten und er wäre nicht auf den Intensivstationen, wo Ärztinnen und Ärzte um jedes Leben kämpfen. Er wäre hier und nirgends sonst.
Gott wäre beschränkt und begrenzt auf meinen Horizont. Nichts Undenkbares, nichts Unfassbares würde geschehen. Was meine Phantasie sich nicht erdenken könnte, würde Gott auch nicht tun. Und schon gar nicht wäre er überraschend, faszinierend, verstörend, finster oder schrecklich. Ihm würde alles fehlen, was ihn heilig macht… Er wäre zwar menschlich und nah, aber nicht mehr göttlich. Er wäre nur so wie mein imaginärer Freund, der mich durch manche schwere Tage meiner Kindheit begleitet hat.
Was keines Menschen Auge je gesehen…
Wir verkünden Euch, was keines Menschen Auge je gesehen hat, schreibt Paulus. Gott ist so ganz anders, als alles, was wir uns vorstellen können. Gott ist nicht von dieser Welt. Unbegreiflich ist er für unsere Hände und auch für alles andere, was Hände hat. Unsichtbar ist er für alle Augen dieser Erde, auch für hochauflösende Kameras und Superzeitlupen. Keiner unserer Sinne hat ihn erfasst. Was keines Menschen Auge je gesehen, das verkünden wir euch! schreibt Paulus.
Predigerinnen und Pastoren scheinen das zur Zeit manchmal zu vergessen, dass Gott immer ganz anders ist, als wir uns das denken und als wir es gern hätten. Ja, er ist gut und gnädig, aber in seiner Güte und Barmherzigkeit ist er uns auch fremd und fern. Er ist treu und verlässlich wie der gute Hirte, aber er ist auch fordernd und streng wie der Weingärtner, der die Reben beschneidet, die keine Frucht bringen, der auch die Mauern des Weinbergs niederreißen lässt, wenn die Trauben immer wieder sauer werden und die Ernte verworfen werden muss.
Und andererseits ist er uns gerade in seiner unfassbaren Verborgenheit nah. Immer, wenn ich denke, dass ich Gott gar nicht mehr verstehe, drängt er sich gewissermaßen auf, überrascht mit Zärtlichkeit und Liebe, sieht mich an und sagt zu mir „Du“ wie ein vertrauter Freund.
Ein Blick von oben und ein Blick von unten
Wie sollten wir denn auch glauben, was wir gesehen haben? Was wir sicher wissen, das müssen wir nicht mehr glauben. Was wir gesehen haben, bleibt für uns greifbar, verstehbar, mitteilbar. Wenn der Glaube aus dem Sehen kommt, könnten wir ihn anderen erklären, wir könnten sie mit vernünftigen Argumenten überzeugen, dass sie Gott vertrauen müssen. Glaube aber, so schreibt es der Verfasser des Briefs an die „Hebräer“, ist ein festes Vertrauen auf das, was wir nicht sehen…
Denn auch unsere Augen lassen sich täuschen – sehr leicht sogar. Jesus hat seine Jünger gewarnt: Wenn jemand euch sagt: „Hier ist Gott!“ oder „Da ist er!“, „Dort könnt ihr ihn sehen!“ oder „Kommt hier her!“ – glaubt ihnen nicht, geht auch nicht hin, sie wollen euch verführen. Gott ist wie ein Blitz am Himmel, von allen Enden der Erde aus sichtbar. Er wird sich euch zeigen, und ihr werdet es wissen.
Nicht von oben her, nicht aus eigener Kraft erkennen wir Gott. Alle wissenschaftliche Forschung, auch die Theologie, selbst Meditation und Gebet und alle geistlichen Übungen verfehlen Gott, wenn sie versuchen, ihn sich auf ihre Art verfügbar und greifbar zu machen. Wer hochmütig einen Turm baut, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, findet über den Wolken nur Leere, bis seine Sprache und sein Denken sich verwirrt und für alle anderen Menschen unverstehbar wird. Auch so wahrt Gott sein Geheimnis.
Nur in Demut, gewissermaßen von unten her, lässt Gott sich erkennen. Diese Position kann man aber nicht suchen, nicht absichtlich herbei führen. In die Wüste des Lebens findet man nicht selbst hinein – wer würde das schon wollen? In die Wüste des Lebens wird man geführt. Dort aber ist Gott nicht fern, dessen Wesen es ist, dass er sich hinunter beugt zu den Geringen und der die ansieht, die dem Tod nahe sind.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist
Was uns zur Verfügung steht, was wir sehen und begreifen, einplanen und verwalten können, das ist nicht Gott. Gott ist, was uns fremd ist, was unerwartet kommt. Gott ist, was überrascht und nicht geplant werden kann. Gott ist uns fern und manchmal überraschend nah.
Moses soll Gott gesehen haben, so steht es in der Bibel. Er hat ihn gesehen – von Angesicht zu Angesicht, wie ein Freund einen anderen ansieht. Adam soll Gott gesehen haben, seinen Schöpfer, und auch Eva natürlich, damals im Paradies. Aber sonst hat niemand ihn jemals gesehen. Er hat sich immer verborgen – in Rauchsäulen aus Wolken und Feuer, in blendendem Licht und finsterster Dunkelheit. Größer als Galaxien und winziger als die Bruchstücke der Atome, fern von dieser Welt und verborgen in ihrer innersten Mitte, wo unsere Meßgeräte und Sensoren ihn niemals finden werden. Gott hat sich versteckt. Niemand hat Gott je gesehen, außer dem Sohn Gottes selbst.
Ein Augenblick Gott
Von Abraham, dem Stammvater Israels, wird erzählt, dass er zwei Söhne hatte: Ismael, geboren von Hagar, der Sklavin seiner Frau, und Isaak, den Sohn von Sara, seiner Ehefrau. Nach einigen spannungsvollen Jahren sieht Abraham sich genötigt, Hagar und seinen Erstgeborenen zu verstoßen. In der Wüste finden die Sklavin und ihr Sohn eine kleine Oase, einen Brunnen. Dort hat sie eine Begegnung mit Gott. Er verspricht ihr, dass sie – wie Abraham – viele Nachkommen haben wird, dass sie – wie Sara – die Urahnin eines großen Volkes sein wird. So soll sie Anteil haben an dem Segen Gottes, den er auf Abraham gelegt hat. Was genau zwischen ihr und dem Herrn der Welt geschah, wird ihr Geheimnis bleiben; aber hinterher bekennt sie: an diesem Ort hat der HERR mich gesehen.
Du bist ein Gott der mich sieht…
Du bist ein Gott, der mich anschaut… Auch Abraham selbst hat diese Erfahrung gemacht. Er, der die Sklavin seiner Frau und ihren Sohn in die Wüste geschickt, wurde von Gott aufgefordert, auf dem Berg Horeb seinen Sohn zu opfern. Schon war das Holz für das Brandopfer aufgeschichtet, bereit für die zündende Fackel, schon lag Isaak gefesselt auf dem Holz, schon war das Messer in Abrahams Hand – da rief Gott ihm zu: „Tu ihm nichts! Ich habe Dich gesehen!“
„Dies ist der Berg, an dem der Herr sieht…“ So sprach Abraham, und so hat man diesen Berg noch Jahrhunderte später genannt.
Wie sehr sich die Geschichten gleichen! Hagar am Brunnen, Abraham auf einem Berg – beide werden in letzter Sekunde gesehen und gerettet. Der „Gott, der sieht“ hat eingegriffen.
Wichtiger als die Sehnsucht, Gott zu sehen, ist die Gewissheit, dass Gott die Menschen sieht. Denn Gott sieht nicht nur, was vor Augen ist, er sieht das Herz an. Er sieht vor allem auf die Menschen, die in Not und Verzweiflung sind wie Hagar. Er sieht auf die Menschen in der Wüste ihres Lebens wie Jakob, der vor seinem Bruder flüchten musste. Er sieht auf Menschen wie Hiob, die an einem Punkt angekommen sind, wo sie buchstäblich in der Asche sitzen und ihre Wunden aufkratzen…
Wenn Gott sieht, heißt das nicht nur, dass Gott einen Menschen erblickt. Die hebräische Vokabel ra’ah „sehen“ ist wie auch im Lateinischen, im Englischen und im Deutschen eng verwandt mit den Worten providere und to provide, also „voraussehen“ und „versehen“, also mit „vorbereiten und versorgen“. Der „Gott, der sieht“ ist der Gott, der versorgt, der sich darum kümmert, dass das Nötige vorhanden ist – ein Widder, der an der Stelle Isaaks geopfert wird, Wasser für den Sohn der Hagar, ein großartiger Segen für den flüchtenden Jakob, Brot und Wasser für den Propheten Elia und die Witwe von Sarepta, Zukunft und Hoffnung für Hiob, der seinen Glauben nicht aufgibt trotz aller Not.
Nichts zu sehen…
Jesus hat gesagt: „Wer mich sieht, der sieht auch den Vater.“ Gott hat durch ihn den Menschen gezeigt, wie er ist. In ihm ist er selbst zu den Menschen gekommen. Aber auch in dieser letzten Offenbarung war er noch verborgen und verhüllt. „Wir haben ihn gesehen,“ so heißt es in einem Psalm, „aber da war nichts, das man gern sieht; kein Glanz und keine Herrlichkeit, nichts Erhabenes und nichts Schönes. Zerschlagen und vernichtet war er, ein gebrochener Mensch…„
Erst unter dem Kreuz hat ihn der Hauptmann der römischen Soldaten erkannt und konnte sehen, wer er in Wahrheit war: „Ja, wirklich – dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen…„
Im Gekreuzigten hat Gott sich verborgen; und die Menschen, die nur sehen, was offen vor Augen ist, haben ihn nicht erkannt. Sie haben göttliche Macht und himmlischen Glanz an ihm gesucht – und so konnten sie nicht wahrnehmen, dass das Leben hier im Tod gesiegt, dass die Hoffnung sich in der Verzweiflung vollendet hat. Im Gegenteil des Erwartbaren hat Gott sich versteckt. Was keines Menschen Auge je gesehen, das hat Gott denen vorbereitet (providere!), die ihn lieben.
Durch den Horizont geschaut…
In einem Kalender mit Geschichten aus der christlichen Mission stand ein Bericht – wenn es nicht wahr ist, so ist’s doch gut erfunden – über ein Ehepaar, die als Missionare nach Papua-Neuguinea gezogen sind, um dort eine medizinische Versorgung aufzubauen. Zugleich hatten sie den Auftrag, die Bibel in die Landessprache zu übersetzen. Nach einiger Zeit bekam das Ehepaar ihr erstes Kind. Natürlich freuten sie sich sehr darüber. Ebenso die Einheimischen, die dieses kleine weiße Baby bestaunten.
Doch dann erkrankte das Kind und starb schließlich an einer Infektion. Voller Trauer zimmerte der Vater mit eigenen Händen den Sarg für sein Kind und beerdigte es im Dorf. Die Einwohner schauten ihm zu, beobachteten alles ganz genau. Schließlich fragte einer von ihnen den Vater: „Dein Sohn ist gestorben. Werdet ihr jetzt weggehen?“ Auf die Antwort des Vaters, sie würden bestimmt in dem Ort bleiben antwortete dann der Mann: „Aber dann werdet ihr vielleicht auch noch krank werden und sterben!“ „Da machen wir uns keine Sorge. Wir sind in Gottes Hand, genau wie unser Kind.“
Diese Haltung ließ den Einheimischen nicht los. Er dachte lange nach und sagte schließlich: „Was seid ihr Christen doch für seltsame Menschen! Ihr fürchtet den Tod nicht, und ihr könnt durch den Horizont sehen!“ Dabei fiel dem Missionar ein, dass er schon lange versucht hatte, das Wort „Hoffnung“ in die Papua-Sprache zu übersetzen, die den Begriff nicht kennt. Jetzt hatte er ihn gefunden. Hoffnung bedeutet, ‚durch den Horizont sehen‘.
„Du bist ein Gott, der mich anschaut!“ In diesem Glaubensbekenntnis ist das Vertrauen formuliert, dass Gott gerade in schweren Zeiten da sein wird. Er ist es, der durch den Horizont schaut, auch durch den letzten, der der Tod ist. Das Weizenkorn, das nicht in die Erde fällt, bleibt allein. Wenn es ausgesät wird und „stirbt“, bringt es viel Frucht. So kommt das Leben durch den Tod hindurch ans Licht. So hat Hoffnung einen festen Grund.