Die Mauer muss weg…

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Als Deutschland noch geteilt war und die Mauer Ost- und West-Berlin trennte, fuhr die U-Bahn unter dem Ost-Teil durch fast menschenleere Geisterbahnhöfe. Dort war alles staubig und verschmutzt. Manchmal war ein Soldat da und passte auf, dass der Zug nicht anhielt und niemand auf die Wagen sprang. Mir taten sie immer leid, wie sie da im Halbdunkel ihren Tag verbringen mussten – ohne Sonne, im Staub, bei den quietschenden Zügen voller Menschen aus dem Westen…

Ich kann nicht verstehen, dass es so viele Leute gibt, die sich die Mauer zurück wünschen…

Hoffnung für eine Ewigkeit…

Die meisten Menschen erhoffen sich, dass im Himmel alles so sein wird, als ob es nie Schmerzen und Leid gegeben hätte: Alle sind gesund und jung, keiner humpelt oder braucht eine Brille, keiner hat Narben am Körper oder in der Seele… Aber ich glaube, dass uns unsere Lebensgeschichte doch erst zu dem Menschen gemacht hat, der wir sind. Also auch die verheulten Augen, die schlaflosen Nächte, die Kratzer an den Händen und die Beulen auf der Stirn, – und die Krankheiten, die wir durchlebt und überwunden haben. Wenn all das plötzlich nicht mehr wahr ist, bin ich es nicht, der da in den Himmel kommt, sondern der, der ich hätte sein können… Aber der Himmel ist doch MIR versprochen, und nicht einer vollkommenen Version meiner selbst.

Was ich aber glaube, ist, dass ich dann geheilt sein werde, zurecht gebracht, richtig gemacht, gerichtet. Ich werde mich nicht mehr schämen müssen, ich muss mich nicht mehr fürchten und es wird keinen Grund mehr geben für noch mehr Tränen, ausser für Freudentränen. Ich werde nicht mehr nach Liebe suchen…

Der Mann im Spiegel

Man in the Mirror


Jeden Morgen sehe ich ihn, wenn er in sein Badezimmer kommt. Er putzt sich die Zähne, wäscht sich das Gesicht, rasiert sich. Sein Badezimmer sieht ganz genau so aus wie meines. Seine Haare sind nass, wahrscheinlich hat er gerade geduscht. Wie ich. Dann zwinkert er mir zu, als ob er sagen wollte: Du machst das schon, alter Kumpel. Manchmal lächelt er. Dann geht er aus dem Zimmer und macht die Tür hinter sich zu. Er lebt sein Leben da in seiner Spiegelwelt.
 
Er sieht mir ziemlich ähnlich. Ende Vierzig ist er wohl, ein bisschen zu dick, wahrscheinlich isst er gern und oft auch ein bisschen zu viel. Es schmeckt ihm, und er ist ein Genießer. Hat er wie ich eine Waage im Flur stehen und ärgert sich immer wieder einmal darüber, dass er wieder ein paar Pfund zugenommen hat?
 
Welchen Beruf er wohl hat? Manchmal sieht er um die Augen herum müde aus, als ob er nach einem harten Tag nur kurz geschlafen hätte. Manchmal wäscht er sich mit hektischen, schnellen Bewegungen, weil er sich beeilen muss, einen ungewöhnlich frühen Termin wahrzunehmen. Seine Hände sind wohl eher gewohnt, einen Stift zu halten als einen Hammer, sie sind nicht die kräftigen Hände eines Dachdeckers oder eines Schlossers, eher fein und schmal wie die eines Lehrers oder eines Rechtsanwaltes, harte körperliche Arbeit ist er sicher nicht gewohnt.
 
Er trägt einen Ehering, schon seit langem. Ein paar Kratzer sind darauf. Man sieht, dass er nicht mehr neu ist, dieser Ring. Auch in seinen Augen sieht man nicht mehr den Glanz, der aus den Augen frisch verliebter Menschen glitzert. Ob er wohl glücklich ist? Einmal habe ich seine Frau gesehen, die in das Badezimmer kam, um ihm ein neues Handtuch zu bringen. Sie ist schön. Ob da noch lebendige, brennende Glut glimmt unter der Asche? Seine Augen sind grau.
 
Ich frage mich, ob seine Frau und er noch miteinander reden, wenn er gleich mit ihr das Frühstück isst. Machen sie Pläne für das Wochenende? Erinnern sie sich gemeinsam an vergangene Urlaubsreisen? Oder legt sie ihm nur eine Einkaufsliste hin: Bitte, geh doch noch zum Kaufmann, wenn Du von der Arbeit kommst… „Schatz“, das Wort hat sie schon lange nicht mehr gesagt. Manchmal gibt es Streit, schon so früh am Morgen, aber an der Tür, wenn sie beide den Weg zu ihren Arbeitsplätzen beginnen, küssen sie sich. Ohne Leidenschaft, aber dankbar dafür, dass sie einander haben.
 
In der U-Bahn findet er vielleicht sein Lächeln wieder. Er freut sich über die anderen Menschen, über das Stimmengewirr, über das Treiben in der Großstadt am Morgen. Da trinkt einer einen Kaffee aus einem Pappbecher und hört dabei Musik aus Kopfhörerstöpseln in seinen Ohren, man merkt es an der Art, wie er mit dem Fuß wippt. Da lachen zwei langhaarige Schülerinnen über einen albernen Witz. Einige lesen die Morgenzeitung mit den immer gleichen Schlagzeilen über Krieg und Krise. Viele tippen Nachrichten in ihre Mobiltelefone oder lesen die ersten E-Mails das Tages auf einem Tablett-Computer. Manche sehen müde einfach vor sich hin, in Gedanken sind sie ganz weit weg, träumen von Mallorca oder von Mord. Manchmal lächelt jemand zurück, da in der U-Bahn, man nickt sich zu, und einen kurzen Augenblick fühlt man sich nicht mehr so allein.

 

Das Schwert des Heiligen…

Ich bin ein Schwert, geschmiedet von einem erfahrenen Schmied im Römischen Reich. Ich habe eine scharfe Klinge, einen stabilen Griff und meine Schneide ist aus glänzendem Metall. Ich bin eine Kriegswaffe, aber auch ein Symbol für Ehre und Gerechtigkeit. Ich gehöre Martin, einem tapferen und edlen Soldaten, der dem Kaiser Konstantin dient.

Ich habe viele Schlachten mit Martin erlebt, in denen er gegen die Feinde Roms kämpfte. Ich habe Fleisch und Knochen zerschnitten, Blut vergossen und Leben genommen. Ich habe Martin vor Schaden bewahrt. Ich habe auch gesehen, wie er den Besiegten Barmherzigkeit und Mitgefühl entgegenbrachte, ihr Leben verschonte und ihre Wunden behandelte. Er ist ein guter Mann, im Gegensatz zu einigen seiner Kameraden, die grausam und habgierig sind.

Eines Tages, als wir in eine Stadt kommen, treffen wir am Tor auf einen Bettler. Er zittert vor Kälte und trägt nur Lumpen. Er hat kein Zuhause, kein Essen, keine Freunde. Er bettelt um Hilfe, aber niemand schenkt ihm Beachtung. Außer Martin. Er hält sein Pferd an und blickt den Bettler mitleidig an. Er steigt ab und nähert sich ihm. Martin hat weder Geld noch Essen, das er ihm geben könnte, aber er hat etwas anderes. Er legt seinen Umhang ab, ein dickes und warmes Kleidungsstück, das ihn vor dem eisigen Wind schützt. Er zieht mich aus meiner Scheide und hebt mich hoch. Was hat er vor? Er wird doch nicht seinen wertvollen Umhang in zwei Hälften schneiden und einen Teil dem Bettler geben?!

Ich bin überrascht und verwirrt. Warum macht er das? Er braucht seinen Umhang doch viel mehr als der Bettler. Er ist ein Soldat und Soldaten müssen auf jede Situation vorbereitet sein. Er riskiert seine Gesundheit und Sicherheit für einen Fremden. Er verschwendet seinen kostbaren Besitz für eine wertlose Person. Das ist dumm und übertrieben. Er sollte seinen Umhang behalten und den Bettler seinem Schicksal überlassen.

Aber er hört mir nicht zu. Mit einer schnellen Bewegung reißt er mich zu Boden und schneidet so seinen Umhang in zwei Teile. Er wickelt eine Hälfte um den Bettler, bedeckt seinen Körper und wärmt seine Gliedmaßen mit dem warmen Tuch. Er schenkt ihm ein Lächeln und einen Segen. Der Bettler dankt ihm mit Tränen in den Augen. Er sagt, er habe noch nie jemanden wie Martin getroffen. Er sagt, er sei ein von Gott gesandter Engel.

Martin legt sich die andere Hälfte seines Umhangs um die Schultern und besteigt sein Pferd. Er zittert und lächelt. Er sagt, er spüre eine seltsame Wärme in seinem Herzen. Er sagt, er habe sich noch nie so glücklich gefühlt. Er sagt, er folge dem Beispiel von Jesus Christus, der sein Leben für die Welt gegeben habe.

Ich verstehe ihn nicht. Ich weiß nicht, wer Jesus Christus ist. Ich weiß nicht, was Gott ist. Ich kenne nur Krieg und Gewalt. Ich weiß nur, wie man tötet und zerstört. Ich weiß nur, wie man gehorcht und dient. Ich bin ein Schwert, und das ist alles, was ich bin.

Aber als ich Martin davonreiten sehe, während der Bettler ihm zuwinkt, fühle ich etwas, was ich noch nie zuvor gefühlt habe. Ich verspüre einen Anflug von Neugier und Staunen. Ich verspüre einen Funken Bewunderung und Respekt. Ich spüre einen Hauch von Liebe und Loyalität. Ich spüre eine Veränderung in mir.

Vielleicht bin ich nicht nur ein Schwert. Vielleicht bin ich etwas mehr.

Waffen aus Stahl und Eisen…

Boris Pistorius ist zur Zeit der beliebteste Politiker. So konnte man es gestern in der Sendung „Politbarometer“ erfahren. Der Verteidigungsminister ist der einzige namhafte Volksvertreter, der Werte in deutlich positiven Bereich erzielen konnte.

Mit Verhandlungsgeschick und guten Argumenten konnte er die Verantwortlichen für den Staatshaushalt dazu bringen, viele Milliarden Euro zusätzlich für Waffen, Munition und anderes Kriegsgerät zur Verfügung zu stellen, getreu dem alten lateinischen Motto „Wenn Du Frieden willst, bereite Dich auf den Krieg vor.“

Die Losung der Friedensbewegung der DDR und der gesamtdeutschen kirchlichen Initiativen gegen den Krieg „Schwerter zu Pflugscharen“ erscheint den meisten Menschen heute naiv, beinahe kindlich, ein Wunschtraum, der mit der Realität nicht viel zu tun hat. Mit Worten allein, mit pazifistischem Widerstand kann man gegen die aktuellen Bedrohungen der Freiheit und der Demokratie nicht ankommen.

Martin von Tours war römischer Soldat, wahrscheinlich sogar in einem höheren Dienstgrad, mit Macht und Verantwortung betraut. Doch als er an diesem Abend sein Schwert zog, tat er es nicht, um zu töten und zu verletzen, sondern um zu teilen, was er hatte. Völlig unkonventionell, gegen jede Vernunft, ohne Sinn und Verstand gab er die Hälfte seines schweren Winterumhangs einem bettelnden Obdachlosen vor dem Stadttor. Wahrscheinlich bekam er Ärger deshalb, weil er Armee-Eigentum beschädigt hatte, wahrscheinlich bekam er Spott und Gelächter von seinen Kameraden, weil er so unbedacht gehandelt hatte.

Er hat aber aus der Waffe zum Töten ein Werkzeug zum Heilen gemacht, aus dem nach Blut schreienden Stahl ein Werkzeug der Nächstenliebe.

O wie sehr wünsche ich mir, dass dies auch möglich wäre mit den Milliarden, die das Verteidigungsministerium jetzt ausgeben darf. Hoffentlich wird das Geld nicht nur für todbringendes Metall ausgegeben, sondern auch für Mäntel, Decken, Matratzen, Zelte, Medikamente und Lebensmittel, Wärmenden und Heilendes, Friedensstiftendes und Aufbauendes… Wie sehr wünsche ich mir, dass naive Träume eine Chance haben in diesen Wochen voller Blut und Tränen, voller Schmerz und Angst; und das unser Steuergeld hilfreich eingesetzt wird für Gerechtigkeit und Frieden, Sicherheit und Nächstenliebe in aller Welt.

Vielleicht liest Boris Pistorius meine Worte und spürt die Sehnsucht der Menschen des Friedens. Und vielleicht geschieht ein Wunder, wie damals, als Martin sein Schwert zog und damit ein Leben rettete…

Vom Sonnenstich und anderen Verrücktheiten


Für Menschen in den heißen Gegenden am Rand der Wüste war die Sonne gefährlich – Hitze und Durst konnten nur zu leicht zu Kopfschmerzen, Ohnmacht  und  sogar  zum Tod führen.

Die Sonne wurde rund um das Mittelmeer als mächtige und gefährliche Gottheit verehrt – sie ist nicht nur Lebenskraft für alles, was wächst, sondern auch ein zerstörendes und vernichtendes Feuer. Vom Mond glaubte man, dass er verträumt, verliebt und verrückt machen kann. Bis heute spricht man im Englischen von „lunacy“ und „moonstruck“.

Im Psalm 121, 6 wird der Segen Gottes als Schutz gegen die gefährliche Wirkung der Gestirne gepriesen: „Er, Gott, hält seine Hand über dich, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.“

Das hebräische Wort „nacah“, dass an dieser Stelle verwendet wird, bedeutet ganz allgemein „schlagen“, „treffen“, „stechen“, und es kann auch „töten“ bedeuten. Luther übersetzte hier „stechen“ – und hat damit das Wort vom Sonnenstich geprägt.

Arbeiten am Limit…

Ab und zu begegnen mir Leute, die noch ernsthaft der Meinung sind, wir Pfarrer hätten doch eigentlich ein feines Leben. Sonntag klettern wir auf irgendeine Kanzel und predigen dort von oben herab ein paar salbungsvolle Worte, den Rest des Gottesdienstes lesen wir aus der Agende vor, und dann ist die Arbeit im wesentlichen getan. Am Montag haben die Pfarrer frei und dann besuchen sie die ganze Woche lang die Geburtstagskinder in der Gemeinde und trinken ihnen den Kaffee und essen ihnen den Kuchen weg.

Dann gibt es die anderen, die ihren Pfarrer nur schüchtern ansprechen und immer mit den Worten beginnen: „Ich weiß, eigentlich haben Sie Wichtigeres zu tun…“ Sie sind so bescheiden und lieb, dass sie leider wirklich oft übersehen werden.

Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo in der Mitte. Tatsächlich ist es schwierig, für eine Pfarrerin oder einen Pfarrer eine verbindliche Arbeitsplatzbeschreibung zu verabreden und darin feste Stundenkontingente festzulegen. Zu verschieden sind die Anforderungen, die im Laufe eines Jahres an eine Pfarrperson gestellt werden: es gibt Zeiten, in denen ich tatsächlich nur etwa dreißig Stunden in der Woche arbeite, in den Ferien beispielsweise, wenn viele Leute aus der Gemeinde verreist sind. Und es gibt andere Zeiten, in denen vierzehn Gottesdienste im Monat zu halten sind und dazu noch schwierige und anstrengende Gespräche geführt werden müssen. Wenn dann noch dazu Baumaßnahmen und Reparaturen in der Kirche anstehen, der Gemeindebrief geschrieben werden muss und wichtige Ehrenamtliche wegen Krankheit absagen müssen, dann wird auch die eigentlich interessante, befriedigende und erfüllende Arbeit eines Pfarrers nur noch anstrengend.

Dieser November wird für mich eine solch schwierige Zeit. Ich spüre, dass ich Menschen enttäusche, weil ich nicht alles schaffe, was man zu Recht von mir erwartet. Die begeisterte, kreative Initiative wirkt routinierter, erzwungener, vielleicht sogar liebloser als sonst. Ich mache noch, was ich muss, aber kaum mehr. Und abends bin ich todmüde und schlafe schon bei den Sieben-Uhr-Nachrichten ein…

Ich fühle mich wie zu wenig Butter auf ein zu großes Brot gestrichen, und das macht mich dann traurig und unzufrieden mit mir selbst. Dabei habe ich doch gerade einen wunderschönen Urlaub hinter mir und sollte eigentlich entspannt und erholt sein.