Plötzlich und unerwartet…

Seit mehr als dreißig Jahren gibt es in Alt-Schöneberg alle Jahre wieder in der Nacht zum
Ostersonntag einen ganz besonderen Gottesdienst. Wir feiern die heilige Ordnung der Osternacht, den schönsten Gottesdienst im ganzen  Jahr, nach einer alt-ehrwürdigen Liturgie, die in ihrem Kern bis auf die frühesten christlichen Liturgien aus dem vierten Jahrhundert zurück geht.

Wir beginnen mit einem Gebet in der dunklen Kirche, mehreren Lesungen, dem feierlichen Einzug der Osterkerze, die die Gegenwart Jesu Christu symbolisiert, und dem alten Lobpreis „Exultet“… Dann folgen weitere Lesungen und die Gedächtnisfeier der Taufe. Nach dem Osterevangelium wird das Licht in der Kirche entzündet, dann brennen Hunderte von Kerzen und tauchen die ganze Kirche in ein festliches Licht. Zum ersten Mal seit Gründonnerstag läuten jetzt wieder die Glocken und endlich spielt wieder die Orgel zum fröhlichen Osterjubel…

Der Prediger spricht kurz und begeistert vom Sieg des Lebens über den Tod. Und zuletzt feiern alle mit der gemeinsamen Abendmahlsfeier das größte
Geheimnis unseres Glaubens: die Auferstehung dessen, der auch uns das Leben geschenkt hat.

Mehr als dreißig Leute sind an diesem Gottesdienst beteiligt, Sänger, Liturgen, Musiker, Lektoren und der Prediger. Die meisten von ihnen sind schon lange dabei, aber es sind auch jedes Mal einige im Team, für die das die erste Osternacht ihres Lebens ist. Die sind dann besonders nervös und aufgeregt – aber noch lange nicht so sehr wie der arme Mann, der das alles leiten und zusammen halten soll…

„Müssen wir das wirklich noch einmal üben? Es ist doch eh jedes Mal wieder das
selbe Spektakel: Jeder kennt seine Lesung, jeder weiß, wann er wo zu stehen hat…
Wir sprechen einfach noch einmal alles durch, und dann gibt es Kuchen, okay?“

Also sprach Herr Mario von Köperningckh bei der Generalprobe, die ihm viel zu
lange dauerte – zu Hause wartete seine Frau mit Tee und Gebäck, außerdem lockte
die Sportschau – er erlebte diese Prozedur ja nun auch schon im achtzehnten Jahr,
zum achtzehnten Mal.

Der Ablauf steckt ihm schon in den Sehnen und Muskeln seiner Beine und Arme,
den Platz vor dem Altar, von wo er seine immer wieder gleiche Lesung aus dem
Zweiten Buch Mose vorzutragen hatte, würde er auch im Schlaf finden. Buchstäblich,
denn man hatte ihn vor einigen Jahren auch schon einmal aus dem Schlaf rütteln
müssen, da er auf seinem Lektorenplatz sanft weg geschlummert war, mit seiner
brennenden Lektorenkerze in der Hand.

Der Pfarrer hatte sich aber rigoros durchgesetzt, und das ganze Team hatte die ganze
Osternacht einmal durchgespielt: alle Lesungen, alle Gebete, das Ritual, mit dem die
„kostbare Kerze, gewonnen aus dem Wachs, das die Biene mütterlich
hervorgebracht“ für den Gottesdienst geweiht wird, die Segnung des Taufwassers –
einfach alles. Alles außer der Predigt, denn die hatte der Pfarrer noch nicht fertig
bekommen.

Alle Abschnitte des Gottesdienstes, an denen jemand sich noch unsicher fühlte,
wurden zwei bis dreimal wiederholt, alle unstimmigen Formulierungen in den
Gebeten noch einmal geändert, verschiedene Melodien zu den uralten liturgischen
Texten ausprobiert; selbst der Auszug der Liturgen aus der Kirche bei dem
Schlußchoral der Gemeinde wurde zwei Mal geprobt… Es konnte eigentlich gar
nichts mehr schief gehen…

Jetzt aber steht Herr von Köperningckh vor dem Altar und weiß nicht, wo hin er sich
setzen soll, denn auf „seinem“ Platz sitzt Frau Böhnisch, die in diesem Jahr zum
ersten Mal dabei ist. Ganz kurzfristig hat sie sich entschieden, sich ihrem
Lampenfieber zu stellen und trotz ihrer Nervosität in diesem Gottesdienst die
neutestamentliche Lesung zu übernehmen – und das hat Herrn Bäumer, der die Sitzordnung festlegt und auf seinem Computer für alle Beteiligten ausdruckt, etwas
durcheinander gebracht, und so kommt es, dass Frau Böhnisch jetzt auf von
Köperningckhs Platz sitzt. Und sich nun einfach auf den freien Platz zwei Stühle
weiter links zu setzen – ach, dazu reicht Herr von Köperningckhs Flexibilität nicht
mehr aus – immerhin wird er nächstes Jahr fünfundachtzig Jahre alt…

„Scht! Hierher!“ zischt Herr Bäumer und will so den verwirrten Mann an seinen
Platz dirigieren, aber der hört es nicht und reagiert erst, als der Kantor ihm am Ärmel
zupft und ihm einen kleinen Schubs zu dem freien Platz hin gibt. Herr von
Köpeningckh setzt sich hin und schaut missmutig in die Gemeinde – so weit also ist
es schon gekommen, dass es selbst in der Osternacht keinen Platz mehr für ihn in
seiner Kirchengemeinde gibt… Unfassbar!

Bei der Kerzenweihe am Taufbecken neben dem Eingang der Kirche sah der Pfarrer
aus den Augenwinkeln, dass die Kanne für das Taufwasser leer war. Wie kann das
sein? Der Mund wurde ihm trocken, und seine Hände feucht… Wie soll er eine
Taufgedächtnisfeier durchführen ohne Wasser? Zum Glück hatte er noch ein paar
Minuten, in denen das geregelt werden konnte…

Der Kantor sang mit schöner, klarer Stimme das „Exultet“, die Mitglieder des Chores
trugen mit kleinen Anzündedochten das Licht von der Osterkerze, die auf ihrem
Leuter vor dem Altar stand, überall in die Kirche und zündeten dort die Kerzen an,
bis die Kirche von hunderten kleiner Flammen erleuchtet war – da fing es plötzlich
und unerwartet an, im Kirchturm gewaltig zu knacken und zu rumpeln – jemand hatte
das Läutewerk eingeschaltet. Eigentlich sollten die Glocken erst beim „Christ ist
erstanden“ läuten, nun waren sie eine gute Viertelstunde zu früh dran. Vor lauter
Überraschung vergaß die Gemeinde, auf das Exultet mit dem „Amen“ zu antworten.

„Nicht einmal das ist also mehr sicher in der Kirche…“ grummelte von Köperningckh
von seinem Stuhl aus, mit dem er sich sichtbar noch nicht angefreundet hatte.

Die Glocken wurden hastig wieder abgestellt und läuteten auch nur eine gefühlte
halbe Stunde lang aus… Seltsam, wie lang sich neunzig Sekunden anfühlen, wenn
man in dieser Zeit aus Versehen und kurz vor Mitternacht die ganze Nachbarschaft
mit ruhestörendem Lärm beschallt. „Was ist mit dem Taufwasser?“ flüstert der
Pfarrer zu Herrn Bäumer. „Was soll damit sein?“ – „Es ist keins da!“ – Herrn Bäumer
bleibt vor Schreck der Mund offen stehen. „Der Wasserhahn in der Sakristei ist
kaputt, und Bruder Happich wollte Wasser aus dem Gemeindehaus herüber
bringen…“ Das hat er aber dann wohl vergessen, weil er am Eingang der Kirche die
Liedblätter verteilt hat. „Und jetzt?“ fragt der Pfarrer. – „Keine Ahnung…“ seufzt Herr
Bäumer.

Zum Glück stand an der Kanzel noch ein Krug mit Mineralwasser, damit der Prediger
sich bei seiner Rede einmal kurz den Mund erfrischen kann. Davon goß Herr Bäumer
unauffällig etwas in den Krug „mit ohne Taufwasser“; und das rettete die Situation,
nur dass einige Gemeindeglieder sich wunderten, warum da Kohlensäurebläschen im
Taufwasser waren…

Unauffällig war Herr Bäumer aber nur, weil er sowieso schon die ganze Zeit mit
einem kleinen Leselicht an seinem Kragen durch die Kirche geschlurft war, um hier
eine vergessene Kerze anzuzünden und dort ein schwatzhaftes Pärchen in der
Kirchenbank zurecht zu weisen, das zu laut geflüstert hatte in dieser heiligsten aller
Nächte. Herr Bäumer war in diesen Dingen ein Perfektionist.

Der Pfarrer baute das „Missgeschick“ mit der Glocke gleich in seine Predigt ein: – In vielen Traueranzeigen steht ja, dass der Verstorbene plötzlich und unerwartetverstorben ist, und so ein schneller Tod ist für die Angehörigen besonders traurig, weil sie sich nicht verabschieden können und mit ihrer Trauer allein bleiben. Auch Jesu Tod kam für seine Jüngerinnen und Jünger plötzlich und unerwartet und stürzte sie in Hoffnungslosigkeit und tiefe Trauer. Aber dann geschah es – plötzlich und unerwartet, so wie das Glockengeläut in dieser Nacht – dass er auferstanden ist von den Toten. Er lebt, und auch wir werden leben…

Jetzt sollte als Letztes der Kantor mit dem traditionellen Ostergruß diesen fröhlichen
Predigtschluss aufnehmen – „Der Herr ist auferstanden!“ rief stattdessen Frau
Böhnisch laut in die Kirche, als der Kantor gerade den Mund öffnete, und von Herrn
Bäumer, der angesichts dieser Unordnung endgültig die Nerven verlor, hörte man
einen verzweifelten Schrei: „Nein!!!“. „Doch, sagte Frau Böhnisch lächelnd, „Er ist
wahrhaftig auferstanden!“

„Wozu üben wir eigentlich jedes Mal so lange?“ knurrte Herr Mario von
Köperningckh nach dem Gottesdienst, als es noch eine Tasse Kaffee und ein Osterei
für alle Beteiligten gab – „Es wird ja doch jedesmal ein Fiasko…“ „Aber ein
Schönes!“ strahlte Frau Böhnisch; und eigentlich hatte sie Recht damit.

 

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt, bleibt es allein…

Johannes 12, 20-26

Liebe Gemeinde!

Laetare – Freuet euch mit Jerusalem, heißt dieser Sonntag; und mit seinem freudigen Ton bildet er eine Ausnahme in den dunkleren Klängen der Passions- und Fastenzeit. Es ist „Halbzeit“. Drei Wochen nach dem Aschermittwoch und drei Wochen vor Karfreitag erleben wir in Gottesdienst und Liturgie einen kleinen Glanz von Ostern. Mit dem Psalm dieser Woche singen wir von der Verheißung des Vertrauens auf Gott, danken ihm, der uns auch im dürren Tal mit seinem Segen begleitet und für uns Sonne und Schild ist.

Doch in der Evangelienlesung dieses Tages sind wir wieder mitten in der Passionsgeschichte Jesu: Jesus spricht von seinem Tod. Es ist nur wenige Tage vor dem Passahfest. Jerusalem füllt sich mit Pilgern aus der ganzen Welt. Neugierig drängen sich die Menschen auf den Straßen. Jesus zieht mit seinen Jüngern in die Stadt, und er wird begrüßt wie ein alttestamentlicher König: „Hosianna dem, der da kommt im Namen des Herrn!“ Doch inmitten des Festjubels in Jerusalem denkt Jesus an seinen Tod. Die Begeisterung des Volkes bedeutet ihm nichts; wie sie jetzt „Hosianna!“ rufen, werden sie in ein paar Tagen „Kreuzige!“ schreien.

Umständlich wird erzählt, wie zwei Griechen zu Jesus wollen. Auch sie waren nach Jerusalem gekommen, um auf dem Fest zu beten. Dort haben sie von Jesus gehört, und nun suchen sie ihn: „Wir möchten Jesus gerne sehen.“ Als Griechen wenden sie sich zuerst an Philippus und Andreas, und dann gehen sie zu Jesus. Aber der macht es ihnen nicht leicht. Er ist nicht ermutigend, auch nicht missionarisch gegenüber den Fremden. Es ist, als ob er sie warnen wollte: Irrt euch nicht! Die zu mir gehören, werden nicht in Triumphmärschen laufen und sich huldigen lassen. Laßt euch nicht täuschen durch diesen Einzug! Ich gehe in den Tod. Die Stunde ist da.

„Wir wollen Jesus gerne sehen!“ Das könnte auch unsere Bitte sein. Aber was suchen wir, wenn wir Jesus sehen wollen? Suchen wir Rat, Trost, Hilfe? Schutz? Ermutigung? Kraft? Suchen wir das, was uns aus dem Psalm so fröhlich entgegenklingt? Davon weiß Jesus hier nichts zu sagen, und die Griechen finden in ihm einen Mann, der vom Leiden und vom Tod spricht.

Der Weg Jesu geht nach Golgatha. Wer den Heiland sucht, findet den Gekreuzigten. Und wer ihm folgt, wird auch den Weg des Leidens gehen. Aber das Leiden ist nicht Selbstzweck. Das Leiden hat einen Sinn. Aus dem Tod kommt das Leben. Mit einem Bild sagt Jesus: Das Weizenkorn muß in die Erde fallen, damit es nicht allein bleibt; nur, wenn es stirbt, bringt es viel Frucht. Wer an seinem Leben festhält, wird es verlieren; wer sein Leben haßt, wird es ins ewige Leben bewahren.

Die Griechen werden hier einen Teil ihrer eigenen Gedankenwelt wiedererkannt haben. In griechischen Tragödien und Mysterienspielen hat das Leiden und das Sterben große Bedeutung. In griechischen Mythen wird der Kreislauf von Werden und Vergehen in der Natur in Beziehung gesetzt zu dem Sterben und Werden der Götter und der Menschen. Im Nehmen und Geben, im Geboren-werden und im Sterben, im Leiden und im Glück gibt es einen Ausgleich, eines macht dem anderen Platz. Heil und Leben findet in der griechischen Tragödie nur der, der bereit ist, den Preis zu bezahlen und das Opfer zu bringen. Unverdientes Glück erregt schnell den Neid der Götter, aber dem Tüchtigen schenken sie ihren Segen.

Dieser Gedanke ist auch uns heute wieder ganz nah. Wie oft denken wir so im Scherz und auch im Ernst und beruhigen unser Gewissen damit. Wenn es uns gut geht, fürchten wir den Neid unserer Mitmenschen (und vielleicht auch den der alten Götter) und zitieren Sprichwörter, die aus der griechischen Zeit stammen: „Hochmut kommt vor dem Fall“, „Übermut tut selten gut“ usw. Wenn es uns schlecht geht, setzen wir unsere Hoffnung darauf, daß wir irgendwann, irgendwie für diese dunkle Zeit belohnt werden, den Ausgleich erhalten, der uns zusteht…

Das Leiden und Sterben Jesu aber ist nicht Teil eines Kreislaufs, die Gerechtigkeit Gottes ist nicht die ausgleichende Gerechtigkeit, der die Griechen vertrauten. Das Opfer, das Christus gebracht hat, ist ein einmaliges Opfer. Er gab sich ein für allemal in den Tod, um das ewige Leben zu erwirken für alle, die an ihn glauben. Er gibt es ihnen umsont, geschenkt, aus reiner Gnade. Seinem Leben ist nichts hinzuzufügen, sein Opfer ist nicht widerholbar. Schon gar nicht von uns…