Torschlusspanik

Die Liebe, des Gesetzes Erfüllung

8 Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

Leben im Licht des anbrechenden Tages

11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkannt habt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. 13 Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Neid; 14 sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.

Liebe Gemeinde!

Weihnachten kommt immer so plötzlich. Da hat man kaum den Adventskranz geschmückt, die Lichterketten ans Fenster gemacht, das erste Türchen im Adventskalender geöffnet und den ersten Glühwein getrunken, und zack – schon ist Weihnachten. Vor allem Männer sind immer wieder überrascht, wie schnell die Adventszeit vorüber ist.

Man kann nämlich die christlich geprägte westliche Welt grob in zwei Gruppen einteilen: die einen haben schon zum Herbstbeginn die Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie, die Arbeitskollegen und den Freundeskreis eingekauft. Schön verpackt liegen die Geschenke in einem luftdichten Plastikkasten im Keller bereit – mit Schleifen, glitzernden Aufklebern und handgeschriebenen Namensschildchen –, und wenn dann die Kerzen am Baum brennen, werden sie ganz entspannt bereit gelegt, dann kann das Glöckchen klingeln. Sogar zum Schrottwichteln mit den Nachbarn haben diese Leute schon die Päckchen mit den ungeliebtesten Werbegeschenken des vergangenen Jahres drei Tage vorher fertig verpackt.

Die anderen beginnen in der Woche vor Heiligabend wie irre durch Kaufhäuser, Geschenkartikelläden, Flohmärkte und Bahnhofsbuchhandlungen zu flitzen oder sie bestellen Dinge im Internet, in der Hoffnung, dass die Paketdienste nicht gerade in der heißesten Woche des Jahres streiken und die Geschenke rechtzeitig vor dem Fest eintreffen. Manchmal liegen sie dann während der Feiertage im nächsten Postamt bereit und im Briefkasten liegt der Zettel des Paketboten, der leider am 23. Dezember um 14.32 Uhr niemanden in der Wohnung angetroffen hat – klar, da war man ja auch gerade unterwegs, um Gurken, Mayonnaise und Eier für den Kartoffelsalat zu kaufen…

Torschlusspanik. Ich weiß wie es ist, wenn man vergessen hat, rechtzeitig ein Geschenk zu besorgen und dann in der Nacht vor Weihnachten einen gut gemeinten, aber später äußerst ungnädig angenommenen Gutschein im Computer zu designen. Ein Geschenk, das – verbunden mit einem schlechten Gewissen – wirklich nur eine Notlösung sein kann. Denn eigentlich ist ein solches Geschenk eher ein Eingeständnis der eigenen Gedankenlosigkeit als ein gern gegebenes Zeichen von Freundschaft und Zuneigung.

Torschlusspanik kennt aber auch Paulus, und in unserem Predigttext aus dem Römerbrief ist davon die Rede. Die Stunde ist da, schreibt er, die Zeit ist reif. Die Nacht ist vergangen, der Tag bricht an. Jetzt ist es Zeit, aufzustehen vom Schlaf!

Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer einige lange theologische Abhandlungen. Über die Gerechtigkeit, die Gott denen schenkt, die an ihn glauben, über die neue Geburt durch den Heiligen Geist, über das Verhältnis von Christen und Juden und viele andere Themen, durch die er sich der Gemeinde in Rom sozusagen als einen belesenen und gelehrten Theologen vorstellt, der Wichtiges und Interessantes zu sagen hat.

Aber jetzt, am Ende seines Briefes, kommt er von der Theorie zu den praktischen Dingen, redet nicht mehr von den Dingen, die die christliche Gemeinde glaubt, sondern von dem, was sie tun soll. Und da wird sein Ton plötzlich dringend, er will die Gemeinde sozusagen wach rütteln: Steh auf! Es ist Zeit! Beeilt euch! Die Stunde ist da. Jetzt muss das Richtige getan werden.

Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht hier, wo denn überhaupt? Christen müssen sich zeigen, meint Paulus, erkennbar sein als Kinder des Lichts.

Worin zeigt sich aber das Besondere der Christen? Woran erkennt man sie? Paulus nennt ein Stichwort, dass sich durch alle seine Briefe und auch durch die Evangelien zieht: Liebe. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, dass ihr Liebe untereinander habt; hat Jesus selbst gesagt. Und Paulus schreibt: Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt. Genug geliebt werden, genug lieben, das geht gar nicht. Den letzten Funken Liebe, den letzten Schritt werden wir uns immer schuldig bleiben. Wo aber die Liebe beginnt, da ist das Gesetz Christi erfüllt. Wer Gott liebt und seinen Nächsten wie sich selbst, der hat das Gesetz erfüllt.

Liebe, wie sie im Neuen Testament verstanden wird, ist aber kein romantisches Gefühl, kein erotisches Hingerissen-Sein zu dem einen oder einer anderen, nicht das Herzklopfen der frisch Verliebten, nicht die glühende Sehnsucht…

Liebe, wie die Autoren des Neuen Testamentes sie verstanden, ist vielleicht sogar eher das, was alte Ehepaare miteinander verbindet: die Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu übernehmen, sich trotz aller Ecken und Kanten, Trotz aller Schwächen und Eigenheiten anzunehmen, einander zu tragen und ertragen, einander zu helfen und zu unterstützen, und – so wie Jesus es gesagt hat – sich gegenseitig die Last des Lebens abzunehmen. Einer trage die Last des Anderen, heißt es, so werdet ihr Gottes Gebot erfüllen.

Wenn es um das Weihnachtsfest geht, kommt es letztlich nicht auf den Lichterglanz und den Glühwein an, es geht nicht um den Tannenbaum und nicht um die Geschenke. Es geht um die Liebe.

Aus Liebe ist Gott Mensch geworden, einer von uns, hilflos wie ein kleines Kind. Unsere Lasten sind ihm nicht fremd geblieben, er hat sie alle getragen und noch mehr.

Aus Liebe hat Gott uns zu seinen Menschen gemacht, zu solchen, die glauben und getauft sind, zu solchen, über denen der göttliche Name genannt ist, und die die Verheißung haben, dass am Ende nicht der Tod das letzte Wort über sie sprechen wird, sondern dass Gottes unendlich großes Ja! auch ihnen gelten wird.

Aus Liebe dürfen wir seine Kinder sein, als Christen erkennbar durch die ganz praktische Nächstenliebe, die den anderen höher achtet als sich selbst und die darin genau das tut, was Christus selbst tut, der sich hingibt zur Rettung der Welt und zu einer Erlösung für Viele.

Paulus schreibt: So ziehen wir Christus an, so werden wir ihm gleich, so werden wir erkennbar als Menschen, die zu ihm gehören und zu Recht seinen Namen tragen. Mit Leib und Seele, mit Herz und Hirn, mit Hand und Fuß werden wir die Seinen sein.

Paulus rüttelt die Gemeinde wach: Steh auf! Es ist Zeit! Beeilt euch! Die Stunde ist da. Jetzt muss das Richtige getan werden.

Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht hier, wo denn überhaupt? Heute ist der Tag, an dem das Wunder beginnt; Christen müssen sich zeigen, meint Paulus, erkennbar sein als Kinder des Lichts.

Paulus hat Torschlusspanik. Es ist höchste Zeit. Damit, Gott und die Welt und seine Menschen zu lieben, werden wir sowieso niemals fertig. Darum lasst uns heute damit beginnen, jetzt gleich, sofort, unverzüglich.

Wie die Liebe praktisch aussieht, wie sie sich im täglichen Leben äußert, das wird so verschieden sein, wie wir Christenmenschen eben sind, wie unser Charakter und unsere Begabungen, unsere Familien, unsere Freundeskreise und unser Leben verschieden sind. Jede und jeder wird tun, was er kann, jeder Mensch an seinem Platz, jeder ein lebendiger Stein an der richtigen Stelle in dem großen wunderschönen Bauwerk, in das Gott uns hinein gelegt hat, als tragende Säule, als schmückende Zier, als schützendes Gewölbe oder stolze Turmspitze: Keiner bleibt ohne Aufgabe, jede hat ihren Wert.

Manche setzen sich für AIDS-Kranke und ihre Angehörigen ein. Manche geben Geld für ein Schiff, das Ertrinkende aus dem Mittelmeer rettet. Manche gehen ins Altenheim und lesen den Menschen dort etwas vor. Andere leiten die Gemeinde im Gemeindekirchenrat und sind bereit, viel Zeit und Energie dafür aufzuwenden. Wieder andere beginnen jeden Tag mit einem Gebet für ihre Kinder und Enkel, für die Kranken und Hungernden in der Welt, für die Mächtigen und die Ohnmächtigen. Und manche ahnen einfach, wann jemand einen Händedruck, eine Umarmung oder ein Lächeln braucht, und geben das liebevoll und ohne Zögern, wie nur sie es können.

Paulus singt das Hohelied der Liebe: Die Liebe Gottes ist Vorbild für unsere Liebe. Sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört nicht auf, wenn auch die Weisheit, die Vernunft, das Wissen und die Klugheit der Menschen an ihr Ende kommen. Zuletzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; diese drei – die Liebe aber ist die Größte unter ihnen.

Weihnachten kommt immer eher, als man denkt. Niemand weiß, wie viel Zeit ihm bleibt. Unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Der Tag ist schon angebrochen; es ist jetzt Zeit, zu zeigen, auf welcher Seite wir stehen. Es ist jetzt Zeit, in den Spuren Jesu zu gehen und das Richtige zu tun: Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses, so ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

Torschlusspanik ist da nicht nötig, sie hilft auch nicht wirklich weiter. Aber es ist gut, die Zeit zu erkennen: Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht hier, wo denn überhaupt? Heute ist der Tag, an dem das Wunder beginnt.

Living next door to Alice…

Heute zieht die Nachbarin aus der Wohnung unter uns aus, eine sehr alte Frau, über die ich fast gar nichts weiß. Ich habe sie oft im Treppenhaus getroffen und wir haben ein paar Worte gewechselt, aber sie ist sehr schwerhörig und das Reden mit ihr ist anstrengend.

Ab und zu ist sie verreist, und darum ist es mir nicht seltsam vorgekommen, dass sie seit ein paar Wochen nicht mehr da ist.

Heute sind Handwerker von einer Entrümpelungsfirma gekommen und haben die Wohnung komplett leer gemacht, Küchenmöbel, Betten, Sofa, Regale, Teppiche und Blumenkästen, alles steht gerade draußen auf der Straße, und ein paar Leute packen einen Möbelwagen damit voll. Ich weiß nicht, ob sie in  ein Altenheim umgezogen ist oder ob sie jetzt tot ist. Aber es berührt mich schon, zu sehen, wie die geschätzten Dinge, die zusammen ein Leben ausgemacht haben, jetzt unsanft in einen Laster gepackt und entsorgt werden.

Ich weiß, dass es meinen Sachen auch einmal so gehen wird. An den meisten Dingen hänge ich ja nicht, aber es macht mich traurig, zu wissen, dass meine gesammelten Briefe, Erinnerungsstücke und Bilder genau so in der Schrottpresse enden werden. Sie sind nur mir wichtig.

Ich hoffe, die alte Dame lebt und fühlt sich wohl in ihrem neuen Zuhause.

Die fünfte Jahreszeit

Was ist das für ein Tag! Heute hat der Karneval begonnen, zumindest im Rheinland; und viele „Narren“ sind schon wieder außer Rand und Band.

Ich mag den Karneval eigentlich gar nicht, aber ich habe diesen Tag immer wieder zum Anlaß genommen, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in meiner Gemeinde Pfannkuchen zu kaufen. Vielleicht sagt Ihr ja „Berliner“. Oder Krapfen. Sicher gibt es auch noch andere Namen, aber lecker sind die Dinger in jedem Fall.

In meiner neuen Gemeinde arbeitet heute am Montag nur eine kleine „Stammbesetzung“, also kaufe ich die Pfannkuchen heute nur für meine Frau und mich selbst. Aber irgendwie fehlt es mir, das Team mit süßem Fettgebäck zu beglücken. Das war schon so etwas wie ein fester Brauch…

Jetzt bald, in wenigen Minuten, tritt Merkur vor die Sonnenscheibe, von der Erde aus gesehen ist er dann als winzig kleiner schwarzer Fleck auf der Sonne zu sehen. So ein Merkurtransit ist ziemlich selten, er kommt nur so alle zehn bis fünfzehn Jahre einmal vor.

Nun guckt bloß nicht mit den Augen direkt in die Sonne, Ihr könnt blind davon werden! Aber auch mit einer Sonnenfinsternis-Schutzbrille kann man nichts erkennnen, der Merkur ist mit ca. 4000 Kilometern Durchmesser einfach zu klein und zu weit weg, um ihn mit bloßem Auge zu sehen. In der Sternwarte hier in Berlin kann man ihn durch ein Teleskop mit Filter gut erkennen, und die NASA streamt auf ihrer Webseite die Aufnahmen einer Live-Kamera in der Erdumlaufbahn. Hier ist der Link:

Nasa Merkurdurchgang Live-Video

Und heute Nachmittag um 17 Uhr ist Martinstag in meiner Gemeinde, die Kinder werden mit ihren Laternen durch die Straßen ziehen und „Laterne, Laterne, Sonne Mond und Sterne…“ singen. Der Merkur kommt da leider nicht vor…

Gedanken zum Fest der deutschen Einheit

Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Ob ein Volksaufstand ein heroischer Kampf um die Freiheit war oder ein Putschversuch, hängt ganz davon ab, wer am Ende gewonnen hat. Rebellen oder Widerstandskämpfer, Invasoren oder Befreier, Schutzmacht oder Besatzer – letztlich hängt alles daran, wer am Ende gewonnen hat. Bis dahin ist alles nur Propaganda.

Heute wird in Berlin an vielen Orten an den Fall der Mauer gedacht. Es gibt Dutzende von Festen und Gedenkfeiern, überall erzählen Zeitzeugen von dem, was da vor dreißig Jahren geschehen ist, und die Menschen freuen sich gemeinsam darüber, dass die tödliche Grenze gefallen ist und Familien und Freunde wieder vereint waren.

Auch Kirchenleute sind stolz darauf, dass sie damals eine wichtige Rolle im Zeitgeschehen spielten. Die Gemeinden stellten ihre Räume für Diskussionen und Friedensgebete zur Verfügung, Pastoren und Pfarrer beteiligten sich an runden Tischen und Foren, auf denen über die Zukunft der Republik und über die möglichen Formen zukünftige Einheit diskutiert wurde. Demonstrantinnen und Bürgerrechtler trafen sich an Kirchen und auf Marktplätzen, nicht ohne hohes persönliches Risiko. Sie haben gehofft und geglaubt, dass Gott durch sie wirkt und in die Geschichte eingreift. Vielleicht war es aber das größte Wunder von allen, dass nirgendwo ein nervöser Soldat den Auslöser an seinem Maschinengewehr zog.

Fast überraschend kam dann der Satz, dass die Ausreise nun möglich sei – „unverzüglich, ab sofort“ – und überall in beiden deutschen Staaten wurde improvisiert und und provisorische Fakten geschaffen; und nicht wenige fürchteten, dass schon in wenigern Tagen alles vorbei sein würde, dass die offene Grenze eine kurze wunderbare Episode bleiben würde.

Große Sätze wurden gesagt, einprägsam mit beinahe biblischer Wortgewalt: „Berlin wird leben, und die Mauer wird fallen!“ – „Wir Deutschen sind nun das glücklichste Volk der Erde!“ – „Berlin, nun freue dich!“ – „Wir sind ein Volk!“

Heute ganz besonders, aber wahrscheinlich noch im ganzen kommenden Jahr wird daran erinnert werden, wie die deutsche Teilung überwunden wurde. Und es wird so sein: Der Gewinner schreibt Geschichte, der Sieger der deutschen Einheit bestimmt die Sprache, Vergleiche und Bilder, mit denen diese Geschichte erzählt wird.

Anschluß oder Vereinigung, Beitritt oder Wiedervereinigung – mit den kleinen Worten für das, was zu planen war, fing es an. Und diese wirkten sich aus bis in die tägliche Praxis, in den Alltag der Menschen in Ost und West. Die Treuhand wurde gegründet, viele Betriebe, Kombinate und Produktionsgenossenschaften wurden abgewickelt. Es gab Streit um Häuser und Grundstücke zwischen den Menschen, die Eigentümer waren und denen, die seit Jahrzehnten darauf wohnten. Gebietsreformen und und Flurbereinigungen schufen Unsicherheit und Angst unter den Menschen im Osten, manche fühlten sich an die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erinnert, als die Russen alles demontierten und abtransportierten und ein Land am Rande des Abgrunds zurückließen.

Viele Menschen im Osten fühlten sich überrumpelt und betrogen, ihrer Jugend beraubt und um ihr Lebenswerk gebracht. Auf einmal sollte alles nicht mehr gelten, was sie in ihrem Leben aufgebat haben? Sollte wirklich nur das Ampelmännchen und der grüne Rechtsabbiegepfeil an den Kreuzungen von dem bleiben, was einmal ihre Heimat war?

Es ist Eins, zurück zu blicken auf eine großartige historische Errungenschaft wie die deutsche Einheit es zweifelsfrei ist; es ist ein Anderes, an so einem Gedenktag nach vorn zu blicken in die Zukunft und zu überlegen, was werden kann und soll. Nach dreißig Jahren ist die Einheit noch immer nicht verwirklicht, immer noch reden wir von Ost und West, immer noch zeigen Wahlergebnisse, Statistiken, Einkommensverhältnisse, Meinungsumfragen deutliche Unterschiede.

Es ist ein abgegriffenes Bild, aber trotzdem leider wahr: Die Mauer in den Köpfen steht nach dreißig Jahren immer noch. Es bleibt noch viel Arbeit zu tun.

Die Einheit, die Freiheit und das geschwisterliche Miteinander im Staat und in der Gesellschaft wird keiner Generation einfach so geschenkt. Jede Generation muss sich Einheit und Freiheit selbst erarbeiten. Sie muss es wollen, sie muss es erarbeiten und sie muss es gegen die Widersacher der Freiheit verteidigen. Sie muss neue Worte und andere Bilder finden, die wahr sind und nicht nur Propaganda. Sie darf sich nicht nur alte Wunden lecken und vergangenes Unrecht betrauern. Sie darf sich nicht einfangen lassen von Populisten, die Angst schüren aus eigennützigen Gründen. Sie darf sich nicht einreden lassen, dass es wieder Zeit ist, neue Grenzen zu ziehen und neue Mauern zu bauen und Fremde nicht länger willkommen zu heißen.

In der Bibel heißt es: Zur Freiheit seid ihr befreit, darum lasst euch nicht wieder einfangen und erneut unter das Joch zwingen! Mit Selbstbewusstsein und gesundem Menschenverstand wollen wir unsere Geschichte erzählen und uns dann umwenden und ebenso selbstbewusst und ebenso vernünftig unsere Zukunft gestalten!

Was kann und muss die Kirche dabei tun? Wir, die acht Gemeinden rund um den Flughafen, wollen Orte sein, an denen man miteinander spricht. Wir wollen helfen, Geschichte mit anderen Augen zu sehen. Die Kirche hat schon immer eine etwas andere Perspektive gehabt; nicht immer zum Vorteil für die Menschen und die Gesellschaft, aber doch immer etwas außerhalb und als Gegenüber von Staat und Regierung. Wir haben nur noch wenig Möglichkeiten und Ressourcen in unseren Orten, aber was wir haben, das teilen wir gern. Wo es nötig ist, werden wir auch protestieren und Widerstand leisten. Wir werden immer für das Leben einstehen, für Frieden und Gerechtigkeit für die Armen und Schwachen. Wir hoffen und glauben, dass Gott durch uns wirkt, wie er es will. Was wir können und was notwendig ist, wollen wir tun. Mit Gottes Hilfe. Amen.

Wo warst Du, als die Mauer fiel?

Ich bin 1973 nach West-Berlin gezogen, damals war ich zehn Jahre alt. Meine Eltern haben mir vor dem Umzug erzählt, dass Berlin eine geteilte Stadt ist, dass zwischen Osten und Westen eine Mauer gebaut wurde. Vorher wohnten wir in Braunschweig, und ich hatte seltsamerweise weder in der Grundschule noch bei den Gesprächen zuhause am Küchentisch etwas von der DDR gehört.

Als ich die Mauer dann zum ersten Mal sah, war ich enttäuscht. Ich hatte mir eine gewaltige Mauer aus schweren Felsblöcken vorgestellt, mindestens zwanzig Meter hoch und mit Zinnen oben drauf, wie die Burgmauern der Festungen, die ich in meinen Büchern über das Mittelalter gesehen hatte, wir die Kreuzritterburgen auf Malta und Rhodos.   Statt dessen gab es da nur ein ziemlich kümmerlich aussehendes Mäuerchen aus Betonplatten, mit einem Rohr oben darauf, damit man nicht einfach so rüberklettern kann. Dort, wo wir wohnten, gab es ausserdem einen hölzernen Aussichtsturm, auf den man steigen konnte; und von dort oben konnte man die Panzersperren sehen, die Gänge, in denen die scharfen Hunde liefen, die Straße, auf denen in unregelmäßigen Abständen Soldaten in kleinen Kübelwagen Patroullien fuhren, und die schmale Wiese, in denen Sprengfallen und Nagelbretter versteckt waren. Außerdem gab es da den Wachtturm, in dem immer zwei Soldaten mit Gewehren und Ferngläsern saßen. Vom Schießbefehl und von den Toten an der Mauer haben mir meine Eltern damals nichts erzählt.

Photo by XU CHEN on Pexels.com

Wir hatten Verwandte im Osten, denen wir zu Weihnachten immer Pakete schickten, mit Sachen, die es im Osten nicht gab: Batterien, Taschenrechner, Kerzen, manchmal auch Obst. Als Antwort kam ein paar Wochen später ein Paket mit dem Dresdener Christstollen, den niemand in der Familie so wirklich gern mochte und dessen letzte Stücke wir immer erst gegen Ostern aßen, da waren sie dann hart und trocken wir altes Brot.

Einmal machten wir einen Besuch in Ostberlin; wir hatten uns dort mit Verwandten verabredet. Drei Wochen vorher mussten wir mit unseren Ausweisen in ein miefiges Büro in Wedding und dort einen Passierschein bestellen, dabei mussten wir auch den Zwangsumtausch bezahlen, und wir bekamen DDR-Mark dafür, billig wirkende Münzen aus Aluminium, für die wir uns später im Restaurant am Alexanderplatz Club-Cola und Kuchen kauften.

Unsere Verwandten luden uns ein, in das Restaurant in der Kugel auf dem Fernsehturm zu fahren. Dart gab es Kaffee und noch mehr Kuchen, und die Kugel drehte sich ganz langsam, so dass man einmal in der Stunde in alle Richtungen gucken konnte. Nach Norden hin konnten wir sogar unser Hochhaus im Märkischen Viertel erkennen, nach Westen hin das Brandenburger Tor und die Siegessäule, im Süden das Gasometer in Schöneberg und den Steglitzer Kreisel. Was im Osten zu sehen war, kannten wir nicht; wir sahen unzählige Häuser und breite Straßen, die für uns keine Namen hatten.

Die Kontrollen an der Grenze waren immer sehr aufregend. Im „Tränenpalast“ musste man lange anstehen, bis man endlich in eine kleine Kabine treten konnte, wo dann der Grenzbeamte in Uniform den Ausweis kontrollierte, den Passierschein entgegen nahm und das Visum ausstellte. Streng blickte er uns Kindern in die Augen, und vielleicht wusste er, wie sehr unser Herz dabei klopfte. Es war jedes Mal wieder eine Erlösung, wieder an der frischen Luft zu sein.

Nicht weniger aufregend waren die Kontrollen an der Transitstrecke. Wenn wir mit einem Bus voller Jungen und Mädchen auf Konfirmandenreise gingen, musste man am Grenzübergang immer eine Teilnehmerliste vorlegen, der Grenzbeamte ging dann durch den Bus und ließ sich von der Kindern ihre Ausweise zeigen, während der verantwortliche Gruppenleiter vorne im Bus betete, dass niemand einen dummen Spruch machte. Es wurden schon Busse stundenlang an der Grenze festgehalten, weil irgendwelche Spaßvögel was von Republikflüchtlingen im Kofferraum oder von Drogen unter dem Bus erzählt hatten. Meistens ging aber alles gut, und manchmal waren die Grenzbeamten sogar freundlich.

Ich stellte mir oft vor, wie öde der Tag für die Männer sein musste, die stundenlang in der Wachttürmen sitzen mussten, bei Sonne und Regen, Kälte und Hitze, und die grauen und trostlosen Grenzanlagen beobachten mussten. Was sie wohl über die Touristen auf der hölzernen Aussichtsplattform auf unserer Seite der Grenze gedacht haben?

Nur einmal im Jahr, wenn wir Silvester feierten und das Feuerwerk abbrannten, feierten die Menschen in den Wachttürmen anscheinend auch: Punkt zwölf stieg aus jedem Turm eine rote Leuchtkugel in den Himmel. Das sah wunderschön aus und war in seiner Bescheidenheit irgendwie feierlicher und angemessener als das bunte Lichtgeflitter und die Böllerschüsse auf unserer Seite. In diesem Moment fühlte ich mich diesen Männern sogar irgendwie verbunden.

Als ich älter wurde, bin ich manchmal auch allein nach Ost-Berlin gefahren. Ich hatte einen Brieffreund in Halle und zwei Tanten in Heiligenstadt. Die habe ich getroffen, bei den Tanten sogar einmal ein paar Tage übernachtet. Îch erinnere mich an Alpträume, in denen ich bei den Grenzkontrollen bei der Ausreise festgehalten wurde und nicht mehr nach Hause durfte, ich träumte von Nächten in Gefängnissen und von abenteuerlichen Fluchten über den Todesstreifen an der Grenze. Und ich wusste: Was ich nur träumte, haben andere wirtklich erlebt.

Aus unserem Küchenfenster konnten wir über die Mauer gucken. Dort war das Dorf Rosenthal mit einer kleinen Dorfkirche. Immer wieder dachte ich, dass ich zu gern einmal sehen würde, wie die Kirche von innen aussieht. Ich wollte wissen, ob dort überhaupt Gottesdienste gefeiert werden, ob es dort eine Gemeinde gab, und wie es sich wohl für die Menschen dort anfühlte, über die Grenze auf die Hochhäuser des Märkischen Viertels zu schauen.

Dann kamen die aufregenden Tage im November 1989. Ich habe in dieser Zeit studiert, wohnte und lente in Zehlendorf, ziemlich weit ab von den Bezirken in der Mitte Berlins, die damals vor Aufregung summten. Ich hörte von den Demonstrationen in Berlin und in Leipzig, die DDR-Sender berichteten von den Leuten, die riefen „Wir sind das Volk!“ Die alten Betonköpfe in der Regierung der DDR wollten die anstehenden Veränderungen nicht wahr haben, „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf…“ hieß es.

Die Nacht, in der die ersten Grenzübergänge geöffnet wurden, habe ich verschlafen. Am nächsten Morgen redeten meine Mitbewohner in der Küche im Studentenwohnheim davon, sie hatten im Fernseher die Menschenmassen gesehen, die auf der Mauer tanzten oder mit dem Trabant über die Bornholmer Brücke fuhren. Ich habe es ihnen zuerst nicht geglaubt, es kam mir trotz allem so unwirklich vor. Die meisten Menschen, die in diesen Tagen nach Berlin kamen, wollten nur einmal gucken, wie es im Westen ist, und sie sind dann wiede nach Hause gefahren. Nicht viele sind geblieben, kamen dann zuerst in eines der „Auffanglager“, bis sie Wohnung und Arbeit gefunden haben. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie hier auch ganz selbstverständlich zu Hause sein konnten.

Wie lang sollte der Mittagsschlaf dauern?

Als Kleinkind habe ich es gehasst, aber inzwischen – mit fast sechzig Jahren – bin ich froh, wenn ich mir nach dem Mittagessen ein Schläfchen gönnen kann. Ich will es so nennen – nicht Power nap, Siesta, Managerschlaf oder Nickerchen – Mittagsschlaf ist einfach das passende Wort dafür.

Wenn nach dem Essen die Lider schwer werden und die Gedanken träge, wenn im Neuronengetriebe der Sand knirscht und der Hirnmotor nur noch auf halber Kraft läuft, dann ist es Zeit. Meistens ist es schon nach drei, weil ich immer recht spät zu Mittag esse. Manchmal muss ich durchhalten, weil die Arbeit mir keine Freiheit lässt; aber wenn es geht, lege ich mich eine Viertelstunde hin.

Ich schlafe dann sehr schnell ein, und ich kann zum Glück überall schlafen. Ob im Bus oder am Schreibtisch, auf dem Sofa oder auf einem Stuhl im Gemeindezentrum – ich döse weg und werde fast immer eine Viertelstunde später von allein wieder wach. Einen Wecker habe ich mir noch nie gestellt.

Letzte Woche habe ich einmal fast anderthalb Stunden geschlafen; aber ich hatte kein schlechtes Gewissen. Mein Körper hat diesen Schlaf gebraucht und ich habe keinen wichtigen Termin verpasst – also war doch alles in Ordnung.

Vor einiger Zeit habe ich einmal gelesen, dass die Art, wie wir in Deutschland heute schlafen – 8 Stunden im Bett und dann sechzehn Stunden aktiv – noch gar nicht so lange üblich ist. Leute wie Goethe, Beethoven oder Leibnitz sind oft um drei oder vier in der Nacht aufgestanden und haben dafür am Nachmittag ausgiebig geschlafen, um danach noch einmal produktiv zu werden.

Fachleute nennen diesen über mehrere Zeiten des Tages verteilten Schlaf „polyphasischen Schlaf“. Es gibt einen spannenden Wikipedia-Eintrag dazu.

Bei Babies und Kleinkindern ist ein zunächst unregelmäßiger und dann polyphasischer Schlaf normal. Erwachsene praktizieren heutzutage meistens einen monophasischen Schlaf, dh. sie schlafen in der Nacht sechs bis acht Stunden und sind dann achtzehn bis sechzehn Stunden aktiv. Ältere Menschen und Menschen, die in sehr heißen Klimazonen leben, schlafen sechs Stunden in der Nacht und dann noch dreißig Minuten bis zwei Stunden tagsüber. Das nennen die Schlafforscher biphasischen Schlaf.

Mehrere Schlafphasen führen bei manchen Menschen dazu, dass sie insgesamt weniger Schlaf brauchen. Experimentiert wurde mit einer vierstündigen Schlafphase nachts und drei power naps von jeweils dreißig Minuten über den Tag verteilt.

Am Bekanntesten ist vermutlich das Schlafmuster des Künstlers, Ingenieurs und Architekten Buckminster Fuller, der über Jahre hinweg viermal am Tag eine Stunde geschlafen hat und danach jeweils fünf Stunden wach war – angeblich ohne Leistungseinbußen und ohne krank zu werden.

Ich denke, dass der optimale Schlafrhythmus bei jedem Menschen anders liegt – mir tut die Viertelstunde mittags gut; in der Nacht schlafe ich in der Regel sechs Stunden, am Wochenende etwas länger.

Was ich hasse, ist das frühe Aufstehen. Wenn ich bis Mitternacht gearbeitet habe, möchte ich nur sehr ungern um sieben oder acht Uhr schon wieder voll aktiv sein. Es ist schön, wenn ich noch ein bisschen „rum-pröpeln“ kann, bevor ich wieder hellwach sein muss. Zum Glück habe ich einen Beruf, in dem ich meine Zeit relativ frei selbst einteilen kann.