Die Liebe, des Gesetzes Erfüllung
8 Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Leben im Licht des anbrechenden Tages
11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkannt habt, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. 13 Lasst uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Neid; 14 sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, dass ihr den Begierden verfallt.
Liebe Gemeinde!
Weihnachten kommt immer so plötzlich. Da hat man kaum den Adventskranz geschmückt, die Lichterketten ans Fenster gemacht, das erste Türchen im Adventskalender geöffnet und den ersten Glühwein getrunken, und zack – schon ist Weihnachten. Vor allem Männer sind immer wieder überrascht, wie schnell die Adventszeit vorüber ist.
Man kann nämlich die christlich geprägte westliche Welt grob in zwei Gruppen einteilen: die einen haben schon zum Herbstbeginn die Weihnachtsgeschenke für die ganze Familie, die Arbeitskollegen und den Freundeskreis eingekauft. Schön verpackt liegen die Geschenke in einem luftdichten Plastikkasten im Keller bereit – mit Schleifen, glitzernden Aufklebern und handgeschriebenen Namensschildchen –, und wenn dann die Kerzen am Baum brennen, werden sie ganz entspannt bereit gelegt, dann kann das Glöckchen klingeln. Sogar zum Schrottwichteln mit den Nachbarn haben diese Leute schon die Päckchen mit den ungeliebtesten Werbegeschenken des vergangenen Jahres drei Tage vorher fertig verpackt.
Die anderen beginnen in der Woche vor Heiligabend wie irre durch Kaufhäuser, Geschenkartikelläden, Flohmärkte und Bahnhofsbuchhandlungen zu flitzen oder sie bestellen Dinge im Internet, in der Hoffnung, dass die Paketdienste nicht gerade in der heißesten Woche des Jahres streiken und die Geschenke rechtzeitig vor dem Fest eintreffen. Manchmal liegen sie dann während der Feiertage im nächsten Postamt bereit und im Briefkasten liegt der Zettel des Paketboten, der leider am 23. Dezember um 14.32 Uhr niemanden in der Wohnung angetroffen hat – klar, da war man ja auch gerade unterwegs, um Gurken, Mayonnaise und Eier für den Kartoffelsalat zu kaufen…
Torschlusspanik. Ich weiß wie es ist, wenn man vergessen hat, rechtzeitig ein Geschenk zu besorgen und dann in der Nacht vor Weihnachten einen gut gemeinten, aber später äußerst ungnädig angenommenen Gutschein im Computer zu designen. Ein Geschenk, das – verbunden mit einem schlechten Gewissen – wirklich nur eine Notlösung sein kann. Denn eigentlich ist ein solches Geschenk eher ein Eingeständnis der eigenen Gedankenlosigkeit als ein gern gegebenes Zeichen von Freundschaft und Zuneigung.
Torschlusspanik kennt aber auch Paulus, und in unserem Predigttext aus dem Römerbrief ist davon die Rede. Die Stunde ist da, schreibt er, die Zeit ist reif. Die Nacht ist vergangen, der Tag bricht an. Jetzt ist es Zeit, aufzustehen vom Schlaf!
Paulus schreibt in seinem Brief an die Römer einige lange theologische Abhandlungen. Über die Gerechtigkeit, die Gott denen schenkt, die an ihn glauben, über die neue Geburt durch den Heiligen Geist, über das Verhältnis von Christen und Juden und viele andere Themen, durch die er sich der Gemeinde in Rom sozusagen als einen belesenen und gelehrten Theologen vorstellt, der Wichtiges und Interessantes zu sagen hat.
Aber jetzt, am Ende seines Briefes, kommt er von der Theorie zu den praktischen Dingen, redet nicht mehr von den Dingen, die die christliche Gemeinde glaubt, sondern von dem, was sie tun soll. Und da wird sein Ton plötzlich dringend, er will die Gemeinde sozusagen wach rütteln: Steh auf! Es ist Zeit! Beeilt euch! Die Stunde ist da. Jetzt muss das Richtige getan werden.
Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht hier, wo denn überhaupt? Christen müssen sich zeigen, meint Paulus, erkennbar sein als Kinder des Lichts.
Worin zeigt sich aber das Besondere der Christen? Woran erkennt man sie? Paulus nennt ein Stichwort, dass sich durch alle seine Briefe und auch durch die Evangelien zieht: Liebe. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, dass ihr Liebe untereinander habt; hat Jesus selbst gesagt. Und Paulus schreibt: Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt. Genug geliebt werden, genug lieben, das geht gar nicht. Den letzten Funken Liebe, den letzten Schritt werden wir uns immer schuldig bleiben. Wo aber die Liebe beginnt, da ist das Gesetz Christi erfüllt. Wer Gott liebt und seinen Nächsten wie sich selbst, der hat das Gesetz erfüllt.
Liebe, wie sie im Neuen Testament verstanden wird, ist aber kein romantisches Gefühl, kein erotisches Hingerissen-Sein zu dem einen oder einer anderen, nicht das Herzklopfen der frisch Verliebten, nicht die glühende Sehnsucht…
Liebe, wie die Autoren des Neuen Testamentes sie verstanden, ist vielleicht sogar eher das, was alte Ehepaare miteinander verbindet: die Bereitschaft, Verantwortung füreinander zu übernehmen, sich trotz aller Ecken und Kanten, Trotz aller Schwächen und Eigenheiten anzunehmen, einander zu tragen und ertragen, einander zu helfen und zu unterstützen, und – so wie Jesus es gesagt hat – sich gegenseitig die Last des Lebens abzunehmen. Einer trage die Last des Anderen, heißt es, so werdet ihr Gottes Gebot erfüllen.
Wenn es um das Weihnachtsfest geht, kommt es letztlich nicht auf den Lichterglanz und den Glühwein an, es geht nicht um den Tannenbaum und nicht um die Geschenke. Es geht um die Liebe.
Aus Liebe ist Gott Mensch geworden, einer von uns, hilflos wie ein kleines Kind. Unsere Lasten sind ihm nicht fremd geblieben, er hat sie alle getragen und noch mehr.
Aus Liebe hat Gott uns zu seinen Menschen gemacht, zu solchen, die glauben und getauft sind, zu solchen, über denen der göttliche Name genannt ist, und die die Verheißung haben, dass am Ende nicht der Tod das letzte Wort über sie sprechen wird, sondern dass Gottes unendlich großes Ja! auch ihnen gelten wird.
Aus Liebe dürfen wir seine Kinder sein, als Christen erkennbar durch die ganz praktische Nächstenliebe, die den anderen höher achtet als sich selbst und die darin genau das tut, was Christus selbst tut, der sich hingibt zur Rettung der Welt und zu einer Erlösung für Viele.
Paulus schreibt: So ziehen wir Christus an, so werden wir ihm gleich, so werden wir erkennbar als Menschen, die zu ihm gehören und zu Recht seinen Namen tragen. Mit Leib und Seele, mit Herz und Hirn, mit Hand und Fuß werden wir die Seinen sein.
Paulus rüttelt die Gemeinde wach: Steh auf! Es ist Zeit! Beeilt euch! Die Stunde ist da. Jetzt muss das Richtige getan werden.
Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht hier, wo denn überhaupt? Heute ist der Tag, an dem das Wunder beginnt; Christen müssen sich zeigen, meint Paulus, erkennbar sein als Kinder des Lichts.
Paulus hat Torschlusspanik. Es ist höchste Zeit. Damit, Gott und die Welt und seine Menschen zu lieben, werden wir sowieso niemals fertig. Darum lasst uns heute damit beginnen, jetzt gleich, sofort, unverzüglich.
Wie die Liebe praktisch aussieht, wie sie sich im täglichen Leben äußert, das wird so verschieden sein, wie wir Christenmenschen eben sind, wie unser Charakter und unsere Begabungen, unsere Familien, unsere Freundeskreise und unser Leben verschieden sind. Jede und jeder wird tun, was er kann, jeder Mensch an seinem Platz, jeder ein lebendiger Stein an der richtigen Stelle in dem großen wunderschönen Bauwerk, in das Gott uns hinein gelegt hat, als tragende Säule, als schmückende Zier, als schützendes Gewölbe oder stolze Turmspitze: Keiner bleibt ohne Aufgabe, jede hat ihren Wert.
Manche setzen sich für AIDS-Kranke und ihre Angehörigen ein. Manche geben Geld für ein Schiff, das Ertrinkende aus dem Mittelmeer rettet. Manche gehen ins Altenheim und lesen den Menschen dort etwas vor. Andere leiten die Gemeinde im Gemeindekirchenrat und sind bereit, viel Zeit und Energie dafür aufzuwenden. Wieder andere beginnen jeden Tag mit einem Gebet für ihre Kinder und Enkel, für die Kranken und Hungernden in der Welt, für die Mächtigen und die Ohnmächtigen. Und manche ahnen einfach, wann jemand einen Händedruck, eine Umarmung oder ein Lächeln braucht, und geben das liebevoll und ohne Zögern, wie nur sie es können.
Paulus singt das Hohelied der Liebe: Die Liebe Gottes ist Vorbild für unsere Liebe. Sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört nicht auf, wenn auch die Weisheit, die Vernunft, das Wissen und die Klugheit der Menschen an ihr Ende kommen. Zuletzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe; diese drei – die Liebe aber ist die Größte unter ihnen.
Weihnachten kommt immer eher, als man denkt. Niemand weiß, wie viel Zeit ihm bleibt. Unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Der Tag ist schon angebrochen; es ist jetzt Zeit, zu zeigen, auf welcher Seite wir stehen. Es ist jetzt Zeit, in den Spuren Jesu zu gehen und das Richtige zu tun: Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses, so ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung.
Torschlusspanik ist da nicht nötig, sie hilft auch nicht wirklich weiter. Aber es ist gut, die Zeit zu erkennen: Wenn nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht wir, wer sonst? Und wenn nicht hier, wo denn überhaupt? Heute ist der Tag, an dem das Wunder beginnt.