Liebe Gemeinde,
wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?
Früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang haben sie sich auf den Weg gemacht; und diese eine Frage beherrscht nun ihre Gedanken. Maria, die Mutter des Jakobus, und Maria von Magdala, und Salome, sie eilen dem Sonnenaufgang entgegen, und alles, was sie denken können, ist: Den Stein, wie kriegen wir den weg?
In der Nacht nach dem Sabbat haben die Frauen Salben und Essenzen vorbereitet, mit denen sie den Leichnam Jesu salben wollen. Früh am Tag haben sie sich auf den Weg gemacht und eilen nun zu dem Felsengrab, in das Josef von Arimathäa ihn gelegt hatte… Tränen waren in ihren Augen, und die Erinnerung flog zurück zu den Ereignissen, die erst zwei Tage vorbei waren und die doch so viel verändert hatten…
Das Kreuz, die Schreie der erregten Menge, sein Blick, die Angst, die Hitze, die kalten Augen der römischen Soldaten, der Spott und die Verwünschungen, die seine Gegner vor ihm ausspuckten, sein Gebet „Vater, vergib ihnen, sie wissen nichts…“, die langen Stunden seiner Qual, die Dornenkrone, die Tränen der Frauen, endlich der Schrei, „Es ist vollbracht!“ und dann sagte der Hauptmann der römischen Soldaten, mit einer Stimme, in der etwas wie Respekt und eine Art uralter Schauder lag: „Ja, doch, der ist wirklich ein Heiliger gewesen…“
Die Frauen haben den Sabbat über geruht, wie es das Gesetz Gottes vorgeschrieben hat. Sie haben zwar von Gott nichts mehr verstanden, ihr Glaube, ihre Zuversicht und ihre Hoffnungen waren zerstört. Unter Schock tun Menschen dann das, was sie immer schon getan haben, auch wenn es kaum noch einen Sinn hat. Die Gebote Gottes haben ihnen seit ihrer Kinderzeit Trost und Halt gegeben, diesen Geboten blieben sie auch jetzt treu: Du sollst den Feiertag heiligen, hatte er gesagt…
Aber: War es nicht Gott selbst, der ihre Hoffnung zerstört hat? War Jesus denn nicht selbst Gottes Sohn gewesen? Selbst der römische Hauptmann hatte es gesagt, vor zwei Tagen unter dem Kreuz, doch nun war Jesus tot, begraben, seit drei Tagen lag er da in seinem Grab mit dem schweren Stein vor der Tür. Wie konnte Gott das zulassen? Warum hat er ihn nicht bewahrt und beschützt? Wie konnte es sein, dass die Soldaten ihn töten konnten, den Sohn des Ewigen?
Nachdem Jesus gestorben war, ist Josef zu Pilatus gegangen und hat ihn um den Leichnam gebeten. Der Statthalter Roms hat nichts dagegen gehabt; es war ihm wahrscheinlich einfach egal. Sie wollten Jesus bestatten, wie es das Gesetz vorschrieb, also noch bevor der Sabbat begann. Sonst hätten sie ihn dort hängen lassen müssen, bis zum ersten Tag der nächsten Woche, in der Hitze des Tages, vor den Augen der Krähen und der anderen wilden Tiere… Nein, das sollte nicht sein…
Also haben sie ihn eilig zu dem Grab getragen, dort die wichtigsten Gebete für ihn gesprochen und ihn dann zugedeckt und eingewickelt; und zuletzt haben sie den schweren Türstein vor den Eingang gerollt, damit keine Tiere an ihn herankommen könnten, nicht die immer hungrigen Hunde und nicht die Füchse…
Aber wer wird ihn jetzt weg wälzen? Den schweren Stein, der das Grab schützt?…
Steine… Sie sind für uns lebenswichtig. Wir brauchen sie zur Gestaltung und zum Schutz unseres Lebensraumes. Wir bauen Mauern aus Steinen, Häuser, Straßen, Brücken, Türme, Denkmale und Gräber… Über Jahrtausende haben Menschen Werkzeuge und Gebrauchs-gegenstände aus Steinen gemacht, bis heute machen wir aus Steinen Schmuckstücke für Halsketten und Ringe und Zierrat für unsere Wohnungen und unsere Städte.
Aber Steine können auch zwischen den Menschen stehen und sie voneinander trennen; Steine können Waffen und Geschosse sein, sie können Kerker- und Gefängnismauern sein, tödliche Landesgrenzen kennzeichnen, eine bedrückende, Leben zerstörende Last…
Manchmal fängt es ganz harmlos an: Da zieht ein neuer Nachbar ins Haus, der irgendwie seltsam ist. Es gibt gar keinen wirklichen Grund dafür, aber er gefällt mir nicht. Ein Ausländer? Ein Farbiger? Ein Muslim? Spricht er sächsisch oder schwäbisch? Schon wie der immer guckt! Und seine Kinder sind so unhöflich und machen die ganze Zeit Lärm…
Was erst noch normal scheint, führt mit der Zeit dazu, dass wir gedanklich einen Stein zwischen unseren Nachbarn und uns setzen. Ein Stein, als Abgrenzung und Schutz, und wir beruhigen uns mit dem Gedanken, das muss man ja wohl noch dürfen; wir müssen nicht mit jedem gut klar kommen, oder?
Da sind dann noch die anderen, die mit mir morgens im Bus zur Arbeit fahren… Früher, ja früher hat man mal mit denen geredet, nur so, über das Wetter oder auch über die schwierigen Zeiten und dass alles immer teurer wird… Aber jetzt tippt jeder nur auf seinem Handy herum oder trägt diese riesigen neumodischen Kopfhörer, oder er guckt angestrengt aus dem Fenster, als wollte er zeigen „Sprich mich bloß nicht an…“ Gut, dass ich auch da einen Stein setzen kann: Ich verstecke mich hinter der Zeitung oder blicke mit gerunzelter Stirn um mich herum… Sollen sie mich doch in Ruhe lassen, alle. Ich will mit solchen Ignoranten gar nicht reden…
In der Zeitung steht etwas vom Krieg hier und von einer Hungersnot da, ach Gott, ja, aber was soll man denn tun, ein Mensch allein kann da ja doch nichts ändern… Von arbeitslosen Jugendlichen in Spanien und Griechenland steht da was – ach, wenn die nur arbeiten wollten, würden sie auch Arbeit finden, es gibt da doch genug zu tun… Ich lese von alten Leuten in Seniorenheimen, die niemand mehr besucht und von Krankenhäusern, die verzweifelt nach Ehrenamtlichen suchen…
Keinen von diesen Gedanken lasse ich wirklich an mich heran, denn sie schmerzen und tun weh und stören meine Bequemlichkeit und mein gutes Gewissen…
Da sind die Leute, die im Einkaufszentrum betteln oder die Straßenzeitung verkaufen. Was soll denn diese Bettelei, heutzutage verhungert doch in Deutschland niemand mehr, und auch die mit dem kleinen Kind im Arm da, das kennt man ja, alle halbe Stunde kommt ihr Mann mit dem dicken Mercedes und sammelt das Geld ein, und im Sommer fahren die beiden dann mit ihren Kindern nach Ibiza… Da hilft nur noch ein Stein hier und einer da…
Die nervige Cousine, die ewig jammernde Großmutter, der Neffe, bei dem mich jedes mal das schlechte Gewissen packt, wenn ich ihn sehe, weil ich ein Versprechen nicht gehalten habe… Überall steht gedanklich ein Stein zwischen mir und den Menschen um mich herum, und ich spüre, dass diese Steine, mit denen ich mich zu schützen versuche, langsam zu einem Gefängnis werden, zu einer Mauer, die mich begrenzt und einschließt.
Am Ende bin ich ringsherum abgeschlossen und nur nach oben offen – – – aber auch da – Gott, was soll der schon für mich bedeuten, er ist es doch, der all die Schwierigkeiten in dieser Welt zu verantworten hat, der doch eigentlich, schlussendlich, letztlich schuld an Krieg und Armut und Not und Leid ist… Also auch da ein Stein… Und nun sitze ich eingesperrt unter einer Kuppel und spüre, wie mir nach und nach die Luft ausgeht…
Wer nimmt die Steine um mich herum weg? Wer befreit mich zum Leben? Wer schenkt mir einen Ausweg aus dem selbst gewählten Gefängnis?
In der Auferstehungsgeschichte aus dem Evangelium der Osternacht, das wir gehört haben, ist es der Engel, der im Erdbeben auf die Erde kommt, an das Grab tritt und den Stein weg wälzt. Von ihm erfahren die Frauen auch, dass Jesus auferstanden ist. „Er ist nicht hier,“ sagt der Engel den Frauen, „geht und sagt seinen Jüngern, dass er vorangegangen ist nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen…“
Das Grab ist offen, und der Weg für die Frauen ist frei, aber statt den Toten zu finden und ihn zu salben, wie sie es vorhatten, hören sie dort von dem Leben, dass er für sie und für alle eröffnet und ermöglicht hat: ein Leben ohne die Steine, die Mensch von Mensch trennen, ohne die Steine der Angst und des Mißtrauens, die Familien zerstören, Städte zu Wüsten machen, Kriege verursachen und das Leben auf dieser Erde vernichten können, ein Leben voller Hoffnung und Zuversicht, voller Vertrauen, und – Ja! – auch voll Liebe.
Es gibt keine einfachen Lösungen, und noch ist die Welt nicht geheilt; aber in der Finsternis scheint nun der Stern des anbrechenden Morgens; Christus ist unser Licht, das niemals mehr verlischt, und sein Glanz vertreibt die nächtlichen Schatten.
Christus ist erstanden – er ist wahrhaftig auferstanden, und in ihm sehen wir jetzt schon das Leben der kommenden Welt und der neuen Schöpfung Gottes, in der es keinen Tod mehr geben wird und kein Leid und kein Geschrei, denn von heute an macht er alles neu…