Das F-Wort – oder: Wie man im griechischen Restaurant angenehm auffällt…

Wenn ich essen gehe, bin ich eher konservativ. Ich liebe zwar die Abwechslung, gehe mal gerne in ein kroatisches, dann wieder in ein indisches Restaurant, ich liebe spanische, italienische und thailändische Gerichte, ich esse äthiopisch und mexikanisch, sogar bayrisches Essen (Leberkäse!) und badisches (Zwiebelkuchen!), und am liebsten bin ich beim Griechen – aber in jedem Restaurant esse ich dann immer wieder das gleiche: Cevapcici hier, Chicken tikka massala dort, Spaghetti carbonara, Reis mit doppelt gebackener Ente – auf jeder Speisekarte gibt es mein Lieblingsgericht, was ich immer wieder wähle…

Und ich habe dann noch den (zugegeben manchmal etwas peinlichen) Ehrgeiz, die Gerichte mit ihrem richtigen Namen zu bestellen und nicht einfach zu sagen: „Einmal Nummer 42 mit scharfer Soße…“ Also sage ich „einen Teller Mutton Roghanjosh“, wenn ich das Lammfleisch mit Curry und Yoghurt haben will, und „eine Portion Keftedes“, wenn ich die leckeren panierten Hackfleischbällchen von meinem Leib-und-Magen-Griechen serviert bekommen möchte – als Vorspeise zur Ouzo-Platte selbstverständlich…

Peinlich wird es deshalb, weil ich die meisten fremden Sprachen nicht wirklich verstehe und darum gar nicht weiß, ob ich nicht aus Versehen im Steak-House „einen gepfefferten Schuh mit Mitternachts-Mützen“ bestelle. Die vorsichtige Bedienung fragt dann noch einmal nach: „Sie meinen Nummer 23, Steak mit Paprika, ja?“ und ich sage dann zerknirscht: „Genau…“ – Zum Glück merkt das aber fast nie jemand.

Ein bisschen Griechisch kann ich aber, und darum bestelle ich nicht nur die Gerichte mit ihrem richtigen Namen, sondern begrüße die Crew des Restaurants schon beim Eintritt in die wohldekorierten Räume mit einem fröhlichen „Kalli Sperra!“ Das heißt in etwa Guten Abend, denn das eher bekannte „Kalli merra“ heißt Guten Morgen und wird darum logischer Weise nur am Vormittag gesagt. Zum Abschied sagt man dann liebevoll „Kalli nicht da!“, und das heißt Gute Nacht… (Kalli scheint meistens früh schlafen zu gehen, abends ist er immer nicht da…)

Woher ich das weiß? Bei meinem Lieblingsgriechen gibt es besondere Servietten, auf denen in blauer Schrift steht „Jetzt lerne ich griechisch!“ und dann die Übersetzungen der wichtigsten Worte, die man im alltäglichen Leben in einer fremden Stadt und in einem unbekannten Land so braucht: Ich habe Hunger heißt Pineo. Ich habe Durst heißt Dipso. Für Berliner verwirrend, aber trotzdem relativ gut bekannt ist Folgendes: Ja heißt Nee – und Nee heißt Ouchie. Autsch…

Am wichtigsten aber ist das F-Wort. Wann immer man etwas Leckeres serviert bekommt, sei es der Ouzo vom Haus (fast immer mit dem Bonmot „ein Schluck Medizin für die Gesundheit“ präsentiert) oder die Nachspeise (Yoghurt mit Honig und Walnüssen) – wann immer etwas Angenehmes und Freude Spendendes auf den Tisch kommt – bedanke Dich mit „F-Charrissto“. Damit fällt man garantiert angenehm auf im griechischen Restaurant… „F-Charrissto“ heißt Danke; und das kann man ja gar nicht oft genug sagen…

Im Kindergarten wollte eine der Erzieherinnen den Kindern beibringen, „Bitte“ und „Danke“ zu sagen. Als so ein Drei-Käse-Hoch einmal sagte: „Ich WILL Kuchen!“ sagte sie: „Wie heißt das Zauberwort?“
Da sagte der Kleine – ohne Nachdenken: „HokusPokus!“

Unter uns Pfarrerstöchtern ist dieses Wort natürlich bekannt. Es kommt aus dem altgriechischen Wortstamm eucharisto, Ich bin dankbar, aus dem auch das Wort Eucharistie kommt, das unter Katholiken gebräuchliche Wort für das Abendmahl…

Zwischen Ostern und Pfingsten…

Jeder weiß – theoretisch zumindest – dass manche Christinnen und Christen zwischen Aschermittwoch und Ostern fasten. Sie verzichten sieben Wochen lang „um Gottes Willen“ auf Dinge, die sie in den anderen Wochen des Jahres genießen – sie leben vegetarisch oder sogar vegan, verzichten auf Alkohol oder Süßigkeiten, sehen weniger oder gar nicht fern oder nehmen sich etwas ganz anderes vor, um die Fastenzeit zu einer Erfahrung zu machen, die ihnen den Glauben an Gott bedeutsamer und wichtiger macht.

Auch die Adventszeit vor dem Weihnachtsfest ist eigentlich eine Fastenzeit – die ganzen Süßigkeiten, die wir im Advent essen, sind ursprünglich ein Ausgleich gewesen für die nahrhaften, fetten Speisen, auf die die Mönche im Kloster während dieser Zeit verzichteten. In den ungeheizten Zellen war es aber im Winter so kalt, dass sie auf eine andere Art die nötige Energie zu sich nehmen mussten, und da half der Zucker in dem Pfefferkuchen, dem Marzipan, den Spekulatiuskeksen und den anderen Leckereien…

Was aber kaum jemand weiß: Auch die sieben Wochen nach Ostern, zwischen der Osternacht und dem Pfingstfest, sind eine traditionell besonders geprägte Zeit. Die „österliche Freudenzeit“ hat eine besondere Liturgie, in der das „Halleluja“ und das „Christ ist erstanden!“ im Gottesdienst eine hervorragende Stellung einnimmt. Nachdem man in der Fastenzeit auf so vieles verzichtet hat, strahlt und leuchtet die Kirche jetzt ganz besonders schön, die Orgel jubelt und singt, und die Dichter, die vor Wochen noch den „Schmerzensmann“ besungen haben, preisen jetzt den „Sieger, der den Tod überwunden“ und „die Schlüssel zu den Toren der Hölle erobert“ hat.

Wie die Sonntage der Fastenzeit haben auch die Sonntage der Osterzeit ihre lateinischen Namen im Kalender des Kirchenjahres. Sie orientieren sich an den Wechselgesängen zwischen Pfarrer und Gemeinde, die am Beginn der Liturgie vor dem Psalmengebet gesungen werden. An ihnen und an der dazu passenden Evangeliumslesung orientiert sich die Predigt und alles, was sonst noch im Gottesdienst stattfindet.

Die österliche Freudenzeit beginnt mit dem

Sonntag Quasimodo geniti (Wie die neugeborenen Kinder)

An diesem Tag wurden früher viele Kinder und oft auch Erwachsene getauft, denn in der Fastenzeit fanden solch fröhliche Feiern nicht statt. Sie mussten bis nach Ostern warten. Die Taufe wurde als ein Sterben und Neu-Geboren-Werden verstanden. Noch Luther schrieb: „So wird denn der alte Adam, der sündige Mensch, im Wasser der Taufe ersäuft; und es kriecht aus der Taufe hervor ein neuer Mensch, neu geboren nach dem Willen Gottes.“ Was an Christus geschehen ist, geschieht auch an den Menschen, die sich zum Glauben an ihn bekennen.

Wie neugeborene Kinder, als ganz junge Christenmenschen, werden die Neugetauften in der Gemeinde feierlich und jubelnd begrüßt. Die Kinder werden in einem ganz gewissen Sinn als Vorbilder für die Gemeinde gesehen; auch Jesus selbst ermahnte ja seine Jünger: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich Gottes kommen.“ Die Kinder mit ihrem Verlangen nach der „reinen Milch der guten Botschaft Gottes“ werden als ein Beispiel beschrieben, wie die ganze Gemeinde sich um die Lehre, die Predigt, das verbindende Glaubensbekenntnis versammelt.

Es folgt der

Sonntag Misericordias Domini (Barmherzigkeit des Herrn)

An diesem Tag denkt die Gemeinde an Jesus, der gesagt hat: „Ich bin der gute Hirte…“ Mit diesen Worten hat er ein ganz altes, schon vorchristliches Bild aufgenommen und auf sich selbst gewendet. Er, der der Sohn Gottes ist, leitet und führt seine Gemeinde, so wie ein Hirte seine Schafherde zum frischen Wasser und auf die grünen Weiden führt. Als Hirte, der seine Schafe liebt, ist er auch bereit, sein Leben für sie zu lassen. Hier steht im Hintergrund nicht das romantisch-schön verklärte Bild des Hirten, der mit seinem Stab und seinen Hunden die Herde durch Schwarzwaldtäler führt, sondern die Erinnerung an die kampfbereiten Halbnomaden, die am Rand der Wüste Schafe und Ziegen bewachen, sie gegen wilde Tiere und räuberische Banden verteidigen und im Extremfall auch Verletzungen und sogar den Tod erleiden.

Auch die „Hirten der Gemeinde“ selbst, also Pastorinnen und Pastoren, sind manchmal Thema in diesem Gottesdienst, denn sie müssen sich genau so vor Gott verantworten wie Regierende und andere Menschen in Leitungsämtern. Hinter ihnen allen steht Gott, der der oberste Hirte ist und jeden über sein Tun zur Rechenschaft ziehen wird.

Der dritte Sonntag nach Ostern ist der

Sonntag Jubilate (Jubelt!)

Die Gemeinde feiert im Gottesdienst an diesem Tag, dass Gott durch das, was an Ostern geschehen ist, einen neuen Anfang machte. Wie in der Schöpfung am Anfang der Zeit ist der Mensch neu war, so ist er auch durch die Auferstehung neu geworden, verändert, verwandelt. Gott hat von sich aus die Verbindung zwischen Schöpfer und Geschöpf neu bekräftigt. Er hat das Leben wiedergebracht. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Durch die Auferstehung ist das Alte vergangen – es ist alles neu geworden.

Das Bild vom Weinstock und den Reben steht dafür, dass die Menschen ohne Gott nichts tun können, das bleibende Kraft hat für Zeit und Ewigkeit. Er selbst ist der Weinstock, der uns „zuströmt Kraft und Lebenssaft.“ Es ist diese Kraft Gottes, die die Gemeinde in einem Glauben eint und mit Gott verbindet.

Die Halbzeit der österlichen Freudenzeit bildet der

Sonntag Kantate (Singet!)

„Wer singt, betet doppelt…“ Dieser Überzeugung soll schon der Kirchenlehrer Augustinus gewesen sein, der im vierten Jahrhundert nach Christus lebte. Schon immer hat Musik und Gesang im Gottesdienst eine große Rolle gespielt, Melodien und Rhythmus öffnen ja Türen in den menschlichen Geist und in die fühlende Seele hinein, die Worte allein so nur selten finden.

Im Gesang vereinen viele Christinnen und Christen ihre Stimmen zu einem einzigen Lobpreis des ewigen Gottes. „Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“ Der Dank und die Freude über den auferstandenen Christus bricht sich in diesem Gottesdienst Bahn und nimmt den Jubelauf, der im Gottesdienst der vergangenen Woche begann.

Die fünfte Woche beginnt mit dem

Sonntag Rogate (Betet!)

Auch, wer nicht singt, betet, wem das Singen und das Sprechen vergangen ist, ruft trotzdem zu Gott – das Gebet kennt viele unterschiedliche Formen. Alles, was Menschen in schönen, freudigen und erhebenden Erfahrungen fühlen, kann seinen Weg in ihr Gebet finden. Genau so aber auch Not und Schmerz, Angst und Verzweiflung. Zwischen jubelndem Lobpreis und zornigem Klageruf bewegt sich das Gebet – nichts Menschliches ist ihm fremd.

Der Sonntag Rogate kann darum sehr unterschiedliche Schwerpunkte haben, aber es geht immer um die Nähe des glaubenden Menschen zu Gott, der in guten wie in schweren Zeiten den Kontakt nicht abbricht. Der Geist Gottes selbst wohnt im Herzen der Beter und vertritt uns auch da noch „mit unaussprechlichen Worten“, wo wir selbst nicht mehr wissen, wie wir beten können.

Und der letzte Sonntag vor Pfingsten hat den Namen

Sonntag Exaudi (Erhöre mich, Gott!)

In der Erwartung, dass Gott seinen Heiligen Geist sendet, blickt die Gemeinde an diesem Sonntag zurück auf die großen Taten, die Gott getan hat. So, wie er sie bewahrt und behütet, getröstet und geführt hat, wird es es weiter tun, auch wenn nach dem Pfingsttag die österliche Freudenzeit beendet ist. In gewisser Weise ist ja jeder Sonntag ein kleines Osterfest, ein Gedenken an die Auferstehung und das neue Leben, das von Gott kommt.

Der Geist ist Gottes Trost, Gottes Liebe, Gottes Barmherzigkeit: Wer ihn anruft, der wird gehört. Durch ihn erkennen die Glaubenden die vielen Dimensionen des Handelns Gottes in der Welt…

Die heimliche Lust daran, Dinge zu zerstören

0 Macht kaputt, was euch kaputt macht.

Zitat von Ton, Steine, Scherben (1970)

I Ungeschicklichkeit

Jeden Tag mache ich Dinge kaputt.
Ich zerbreche Gläser.
Ich lasse Teller fallen.

Ich mache Kratzer in DVDs
und Knoten in die Bänder von Videocasetten.
Ich schütte Kaffee aus über Tastaturen
und zerkratze Bildschirme und Displays.

Ich schlage Löcher in Wände
und reiße Türen aus ihren Angeln.
Ich zerreiße Netze
und sprenge Ketten.

Ich breche Herzen,
meistens mein Eigenes.
Ich entziehe mich der Kontrolle
und weigere mich, berechenbar zu sein.

Ich schließe mich kurz, bis die Sicherungen herausfliegen.
Meine Räder setze ich neben die Straßen.

Was in der Spur bleibt
fahre ich
gegen die Wand.

2 Nur nichts gefallen lassen

Im Religionsunterricht habe ich gelernt: “Wenn Dir einer auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die Linke hin. Wenn Dir einer Dein Hemd nehmen will, gib ihm auch den Mantel dazu. Es ist besser, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun. Denn irgendwo muss doch die Spirale der Gewalt unterbrochen werden, der Kreislauf von Vergeltung und Rache. Warum also nicht hier bei mir?”

Als Beispiel, was passieren kann, wenn dieser Kreislauf nicht zerbrochen wird, wurde im Religionsunterricht oft die Geschichte von Gerhard Zwerenz erzählt: Zwei Nachbarn geraten miteinander in Streit, sie schlagen sich auf der Straße, hetzen ihre Kinder gegeneinander auf, lassen sich gegenseitig die Luft aus den Autoreifen, beschießen sich aus dem Fenster heraus mit Gewehrkugeln, Granaten, Raketen…

Die Geschichte endet dann mit den Sätzen: “Natürlich sind wir jetzt alle tot, und an der Stelle, wo unsere Straße war, ist nur noch ein großer, rauchender
Krater. Aber immerhin habe ich meinen Standpunkt klar gemacht: Man darf sich nichts gefallen lassen. Die Nachbarn tanzen einem sonst auf der Nase herum…”

3 Geduld

Gib nicht auf.
Niemals.

Elementarteilchen im Nebel

Hab ich Euch schon mal erzählt, dass ich in der Zeit vor ca. vierzig Jahren, als ich mich für ein Studienfach entscheiden musste, eigentlich Atomphysik studieren wollte? Nicht um Kernkraftwerke oder Atom-Bomben zu bauen, sondern um in der Grundlagenforschung mit zu arbeiten! Wenn ich diesen Weg wirklich gegangen wäre, würde ich heute vielleicht am CERN Institut studieren und forschen und „Schwarze Löcher“ in riesigen Teilchenbeschleunigern produzieren…

Ich habe mich schon damals für Kosmologie interessiert, und für Philosophie und Metaphysik, wollte wissen, warum eigentlich das Universum da ist „und nicht vielmehr nichts“…

In dieser Zeit war ich einmal im Deutschen Museum in München, und dort ist eine „Nebelkammer“ ausgestellt… Dieses Gerät sieht ungefähr aus wie ein Tisch mit einer Glasplatte, und unter der Glasplatte ist ein kleiner Zwischenraum, ein paar Zentimeter hoch, und dann eine Metallplatte darunter… In dem Zwischenraum wirbelt und wabert eine Art Nebel, hauchfeine Wassertröpfchen, die so fein sind, dass sie in der Luft schweben. Und wenn man eine Weile zuschaut, sieht man immer wieder, wie plötzlich Spuren in diesem Nebel entstehen, Linien wie die Linien auf der Haut, die man innen auf dem Handteller hat, aber diese Linien verschwinden nach ein paar Sekunden, und dann entstehen andere, neue Linien.

Die Spuren werden wirklich von einzelnen Atomen erzeugt, genau genommen von Ionen und elektrisch geladenen Elementarteilchen, die durch den Nebel flitzen und dabei andere Atome ionisieren. An dieser Spur von elektrisch geladenen Atomen lagern sich dann die milliardenfach größeren Wassertröpfchen ab, und die kann man mit bloßen Augen sehen…

Für mich war das damals total faszinierend, dass man so die Bewegung eines einzelnen Atoms sehen kann… Inzwischen ist die Technik sogar so weit, dass man mit Rasterelektronenmikroskopen wirklich einzelne „stillstehende“ Atome sehen kann (natürlich auch nur auf einem Bildschirm), und man kann sie sogar gezielt bewegen und ein Muster, zum Beispiel ein paar Buchstaben, oder auch etwas Nützliches aus ihnen formen. Die Größenordnung solcher Arbeit ist noch kleiner als die der viel besprochenen Nanotechnologie, man müsste es Pico-Technologie nennen…

Diese Vorsilben für Zehnerpotenzen haben ja auch etwas Faszinierendes. Ich kann mich ja immer aufregen, wenn heute große Festplatten angeboten werden und in der Werbung steht, da passt ein Terra-Byte an Daten darauf. Dabei hat das nichts mit Terra (Erde) zu tun, obwohl unser Planet ja auch ganz ansehnlich groß ist und „Terra“ irgendwie sowieso an Science fiction erinnert, sondern mit der Vorsilbe Tera (für Billionen, 10^12Einheiten).

Die meisten Vorsilben sind den Leuten ja heutzutage ganz gut vertraut, und ich habe schon oft gedacht, dass es besser wäre, große Geldbeträge nicht in Milliarden Euro und so anzugeben, sondern Kilo-Euro, Mega-Euro, Giga-Euro und Tera-Euro zu sagen. Dann würde ein Auto 10 KiloEUR kosten, ein Flugzeugträger 100MegaEURo und die Staatsverschuldung wäre 1,77 TeraEURo — soo teuer!

Aber vielleicht ist es doch besser, 1,77 Billionen Euro zu sagen, dann hat man wenigstens das Gefühl, das es ganz unverschämt, wahnsinnig, unglaublich, unvorstellbar viel ist…

Für wahnsinnig kleine Einheiten gibt es die Vorsilben „milli“ für ein Tausendstel, „mikro“ für ein Millionstel, und weiter geht es mit „nano“, „pico“, „femto“und „atto“. Das klingt so ungewohnt wie eine fremde Sprache aus einer anderen Welt..

Glaubensbekenntnis

Besitzen-wollen“ ist nicht Liebe.
Auch Besessen-sein-wollen ist nicht Liebe.
Liebe ist, wenn wir uns gegenseitig helfen,
zu dem jeweils Eigenen zu finden,
wenn ein jeder zu sich selbst finden kann in dieser Liebe;
Liebe ist, wenn jeder die besten Eigenschaften aus dem anderen herauslockt
und sie groß und leuchtend macht…

Ich liebe dich nicht, weil Du so bist, wie Du bist.
Sondern, weil ich bei dir der sein darf, der ich bin.

Eigentlich…

Eigentlich…

…würde ich jetzt mit meiner Frau in einem Zug sitzen und nach Trier fahren, denn dort wird morgen ihr Patenkind konfirmiert. Wir haben uns extra Urlaub genommen, aber nun bleiben wir zu Hause. Wegen der Corona-Regeln findet die Konfirmation im engsten Familienkreis statt, mehr als zehn Familienmitglieder und Angehörige dürfen nicht kommen. Der Gottesdienst wird auch nicht online übertragen, weil der Pfarrer nicht so wirklich internetaffin ist und auch sonst keiner in der Gemeinde mitarbeitet, der einfach mal sein Handy auf ein Stativ stellen könnte und das Ganze über Zoom streamt… Seit Jahren haben wir uns auf diese Konfirmation gefreut, weil wir alte Freunde wiedergetroffen hätten und vor allem das Patenkind bei diesem wichtigen Schritt hätten begleiten können.

Eigentlich…

…würde ich in zwei Wochen mit meiner Frau in Griechenland Urlaub machen und am Strand auf der Insel Rhodos die Sonne genießen. Das Hotel über der wunderschönen Bucht in Lindos ist uns schon fast zu einem „zweiten Zuhause“ geworden, wir waren zwölf mal hintereinander dort. Letztes Jahr war das Hotel geschlossen; in diesem Jahr müssten wir in Quarantäne – das wäre kein schöner Urlaub. Also bleiben wir zuhause in der Stadt. Leider können wir auch in Berlin nicht viel machen, Museen, Kunstausstellungen, Restaurants und Konzerthallen haben ja alle geschlossen. Ich finde das auch richtig so, aber für diesen Urlaub wird mir nichts anderes übrig bleiben, als zu lesen, zu schreiben, vielleicht ein bisschen Rad zu fahren… Wenigstens gibt es hier in der Nähe ein gutes griechisches Restaurant mit einem Bringdienst.

Eigentlich…

…habe ich gehofft, mit meiner Arbeit in den kleinen Gemeinden rund um den Flughafen mehr bewegen zu können, ich den Menschen auf den Dörfern mehr Begeisterung zu wecken. Aber es hat sich in den sechs Jahren nur wenig geändert. Immer noch hängt es wie eine Drohung über den Gemeinden, dass sie zusammengelegt werden mit anderen, dass vielleicht Predigtstätten geschlossen werden müssen. Wenn nur noch drei Menschen zum Gottesdienst kommen, stellt sich doch irgendwann die Frage, ob aus den kleinen Pflänzchen doch noch einmal etwas wird. Ich habe versucht, mit Liebe und Treue, mit festem Glauben an jeder einzelnen Gemeinde fest zu halten, aber ich habe doch öfter das Gefühl, dass meine Kraft nicht reicht. Die Dörfer wachsen, weil viele Menschen aus Berlin hinaus in den „Speckgürtel“ ziehen, aber viele von ihnen nutzen den Umzug als Gelegenheit, aus der Kirche auszutreten – ohne mich überhaupt jemals kennen gelernt zu haben, ohne zu wissen, was wir in den Gemeinden tun und wofür wir stehen.

Was für ein seltsames, eigentümliches Wort ist dieses „eigentlich„! Vom Ursprung her bedeutet es „zu jemandem gehörig sein“, „dessen wahren, inneren Kern, jemandes Wesen betreffend“… Haben und Sein fallen in diesem Wort zusammen. Was mir gehört, das ist mir eigen. Was meine Art ist, was mich ausmacht, das ist mir eigentlich. Was ich tue und wofür ich stehe, das ist mir eigentlich. Ein Mensch bin ich, und nichts Menschliches ist mir fremd…

Später hat sich die Bedeutung dieses Wortes immer mehr abgeschwächt, es wurde beliebiger, verspielter, uneigentlicher, bis es jetzt fast sein eigenes Gegenteil bedeutet. Ein verlorenes Wort.

Eigentlich ist es jetzt ein Wort, das beschreibt, wie etwas nicht ist, aber sein sollte. Ich sollte jetzt im Zug sitzen. Ich sollte mich jetzt auf meinen Urlaub freuen dürfen. Eigentlich. Es ist ein Wort, das Zweifel sät. Ein Wort, das in Frage stellt, das infrage stellt… Ein verführerisches Wort… „Sollte Gott das wirklich gesagt haben? Eigentlich darfst du doch essen von allen Früchten der Bäume im Garten…

Eigentlich ist das Wort der enttäuschten Hoffnung, der verlorenen Sehnsucht, der verglühten Träume und der unerfüllten Wünsche. Eigentlich ist das Wort der unausführbaren Pläne und des erfolglosen Bemühens. Eigentlich ist ein Pandemie-Wort, ein Leidens-Wort, ein Passions-Wort, ein Wort, das krank macht.

Eigentlich sollte ich es nicht mehr verwenden.

Pfingsten – ein Fest, das begeistert…

Liebe Gemeindeglieder
und Freunde in den Gemeinden
rund um den Flughafen!

Sind Sie begeistert? Bestimmt gibt es Erlebnisse, die Ihr Herz höher schlagen lassen, die Sie vom Hocker reißen und über die Ihre Augen strahlen und leuchten: Ein spannendes Fußballspiel, ein mitreißender Roman, ein Konzert, bei dem man aus vollem Herzen mitsingen und fröhlich tanzen kann…

Endlich wieder mit lieben Menschen im Restaurant sitzen, ins Kino gehen oder im Schwimmbad herum plantschen. Und verreisen! Nach einem langen Winter und einem oft viel zu kalten Frühling, nach vielen Monaten der Selbstbeschränkung wegen der Virus-Pandemie ist jeder Monat „Normalität“, jeder Tag der Freiheit von Sorgen und Angst, jeder Hoffnungsschimmer ein Grund zur Begeisterung.

Ich werde auch begeistert sein, wenn ich nicht mehr vor jedem Gottesdienst eine Teilnehmerliste auslegen muss und immer darauf zu achten habe, dass auch wirklich jeder die Maske auf der Nase hat und die Abstandsregeln einhält. Ich werde mich freuen, wenn ich Ihnen wieder die Hände schütteln kann, Ihnen auf die Schultern klopfen kann und Sie vielleicht sogar umarmen. Tränen der Freude werde ich in den Augen haben, wenn wir wieder gemeinsam das Abendmahl feiern können.

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen…

Apostelgeschichte 5, 29

Niemals hätte ich geglaubt, dass uns Corona so lange beschäftigen würde. Wenn mir im letzten Jahr jemand voraus gesagt hätte, dass wir mehr als ein Jahr lang Probleme mit den Virus haben werden, hätte ich ihm nur entgeistert in die Augen geschaut.

Auch andere Probleme, die ich wahr genommen habe, machen mich ratlos und verzweifelt, weil ich spüre, dass etwas ganz entschieden falsch läuft und ich nicht weiß, wie ich etwas ändern kann: die unwürdige und menschenverachtende Art, wie Flüchtlinge an den Grenzen der EU behandelt werden. Die Blindheit, mit der viele Menschen immer noch den Klimawandel ignorieren. Und das Rassismusproblem, das wir auch in Deutschland haben und das ich viele Jahre unterschätzt habe. Ich höre die Nachrichten im Radio und lese Berichte im Internet und frage mich: Sind wir denn von allen guten Geistern verlassen?

Öffne deinen Mund für die Stummen,
für das Recht aller Schwachen!

Sprüche 31, 8

In der Bibel wird der Geist Gottes mit vielen unterschiedlichen Bildern beschrieben. Manchmal wird gesagt, dass er ausgegossen wird über die Glaubenden wie eine wohlriechende Salbe, ein Öl, mit dem man noch zu Jesu Zeiten Könige und Priester gesalbt hat. Manchmal wird er beschrieben wie ein Siegel, mit dem man damals wichtige Urkunden und Dokumente versiegelt hat, um sie zu schützen und zu legitimieren. Der Geist kommt über die Jünger Jesu wie ein Feuer, das sie entflammt und anfeuert, in Bewegung setzt und eben „begeistert“. An anderen Stellen in der Bibel wird er das „Band der Liebe“ genannt, er ist die Kraft Gottes, die die Gemeinde zusammenhält und eint, die Macht, die Christinnen und Christen dazu treibt, den Schwestern und Brüdern im Glauben und darüber hinaus ihre Zuwendung, ihre Nähe und Liebe zu schenken.

Durch die Macht des Geistes entstand die erste Gemeinde, die Keimzelle der Kirche.

Darum nennen manche das, was am Pfingsttag damals in Jerusalem geschehen ist, den „Geburtstag“ der Kirche. Zuerst waren die Jünger Jesu ängstlich und schüchtern im Oberstübchen eines Hauses versteckt. Die Freude über die Auferstehung Jesu wurde überdeckt von der Angst, sein Schicksal auch selbst erleiden zu müssen, wenn sie sich mit dieser Botschaft vom neuen Leben zu sehr in die Öffentlichkeit wagen.

Aber begeistert von der göttlichen Liebe hält sie nichts mehr, und sie reden auf dem Marktplatz und in den Straßen und Gassen von den großen Taten Gottes, dass ihre Mitmenschen schon spotten und sie für betrunken halten.

Oft wirken Menschen, die sich von einer begeisternden Erfahrung entflammen lassen, irritierend und ungewöhnlich. Man hat den Eindruck, sie wären nicht mehr ganz bei sich, als wären sie aus dem Gleichgewicht geraten. Ek-zentrisch, ver-rückt, ganz außer sich…

In der Bibel wird davon berichtet, dass die Menschen unter dem Einfluss des Heiligen Geistes anfingen, „in fremden Sprachen“ zu sprechen, sie gerieten in „Verzückung“, sie sind „entflammt“ wie Verliebte, denen das Herz brennt.

Aber der Geist tut nicht nur das. Er bringt zwar die glaubenden Menschen dazu, nicht mehr „ganz bei sich“ zu sein – aber um so mehr sind sie dann ganz bei den anderen. Sie sind bei den Stummen und leihen ihnen ihre Stimme, sie sind bei den Schwachen und geben ihnen ihre Kraft. Sie sind bei den Hungern-den und Machtlosen, bei den Bedürftigen und bei den Menschen in Not.

Gott ist nicht ferne einem jeden unter uns.
Denn in ihm leben, weben und sind wir.

Apostelgeschichte 17, 27

Es ist kein besinnungsloser Rausch, keine selbstzerstörerische Ekstase, die die Christen verwirrt, wenn der Geist Gottes sie ergreift, sondern es ist die sehr genaue Ausrichtung weg von sich selbst und hin zu denen, die Gott in ihrer Not ganz nahe sind. So, als ob Glaubende sich plötzlich an einem anderen Koordinatensystem ausrichtet, als ob in ihrem Leben andere Gesetze und Regeln gelten und neue, über-raschende Dinge entscheidend wichtig geworden sind.

Wer sich so in Gottes Ordnungen geborgen weiß, wer in ihm „lebt und webt“, der wird Gott mehr gehorchen als den Menschen. Weil Gott keinem von uns fern ist, gehen wir da hin, wo er hin gegangen wäre.

Das ist die geistliche Begründung für die Nächstenliebe, die uns Christenmenschen aufgegeben ist: Wir begegnen Gott in unserem Nächsten, im Mitmenschen, der Trost und Hilfe braucht, und der Geist Gottes ist es, der uns dort hin treibt. Caritas, die Nächstenliebe, gehört zum Wesen der Kirche, zum Kern dessen, was es heißt, Christ zu sein.

Die Verführung ist groß, ängstlich und sich selbst genug in irgendeinem „Oberstübchen“ versteckt zu bleiben. Aber Gottes Geist verbrennt die Angst und überwindet die Scheu.

Lasst uns hinaus gehen und von den großen Taten Gottes reden, auch wenn andere uns für verrückt halten. Und lasst uns Gutes tun und aus der Liebe Gottes heraus handeln, auch wenn manche dann verwundert ihre Köpfe schütteln…

Mit begeisterten Grüßen

Richard Horn, Pfarrer

Retro-futuristische Plastik-Uhr

Letzte Woche habe ich in Wendy’s Wunderbarer Warenwelt endlich diese Uhr gefunden!

So etwas hatten wir vor fünfzig Jahren im Kinderzimmer: einen Radiowecker aus orangefarbigem Kunststoff, mit einer echten Fallblatt-Zahlenanzeige, so, wie es sie früher auch an den großen Anzeigetafeln am Bahnhof und am Flughafen gab, sozusagen digital und analog zugleich.

Seit vielen Jahren habe ich nach so einer Uhr gesucht, weil ich die Sieben-Segment-Anzeigen der meisten Digitaluhren und Radiowecker einfach nur noch häßlich finde. Und dieses retro-futuristische Design mit den abgerundeten Ecken ist einfach nur klasse! Es erinnert mich an „Captain Future“, die „Jetsons“ und die Titelseiten der Trash-Science-Fiction-Romane, die ich damals im Wochenrhytmus verschlungen habe. Jetzt steht sie hier in meinem Arbeitszimmer, und ich freue mich so sehr!

Ich weiß gar nicht, ob es die Mengenlehre-Uhr am Europa-Center in Berlin am Kurfürstendamm noch gibt: Auch sie war ein Kind dieser Zeit. Sie zeigte in vier horizontalen Reihen von Lampen die Minuten und Stunden des Tages an; in der obersten Reihe vier Lampen für jeweils eine Minute, darunter zwölf Lampen für jeweils fünf Minuten; darunter dann wieder vier Lampen für jeweils eine Stunde und ganz unten vier Lampen für jeweils fünf Stunden. Und ganz oben blinkte noch ein orangefarbenes Licht im Sekundentakt. Auch diese Uhr hatte ein stylisches Gehäuse mit abgerundeten Ecken…

Aus dem Wikipädia-Artikel zur Mengenlehre-Uhr…

Deutschland – ein Gottesstaat?

Vorüberlegungen zur Predigt am 18. April 2021 – Hesekiel 34, 1-31

Wenn wir über den Predigttext aus dem Buch des Propheten Hesekiel nachdenken, blicken wir in eine weit entfernte Vergangenheit zurück. Damals gab es auch im Reich Israel eine Art humanistischen Aufbruch: Im Mittelpunkt der gelebten Werteordnung stand der wirtschaftliche Erfolg des Einzelnen und die Machterhaltung des Staatswesens im Gesamten. Ausgehend vom Königtum, das sich damals noch als von Gott eingesetzte Regierung verstand, wurde Recht und Gesetz im Land geordnet. Objektiv gesehen hatte das viele Vorteile für die Israeliten: Es gab sichere Handelswege nach Europa und im Vorderen Orient, es gab tragfähige Politische und militärische Allianzen und es gab einen Austausch von Kunst und Kultur, von Philosophie und Religion mit den Nachbarvölkern, von dem alle Beteiligten profitierten.

Trotzdem war der Reichtum im Land sehr ungleich verteilt, und Bestechlichkeit und Korruption verhinderten, dass es einen fairen Wettkampf gab und Menschen aus den unteren Schichten der Gesellschaft aufsteigen konnten. Reiche und Mächtige hatten alle Möglichkeiten und nutzten sie vor allem dazu, ihre eigenen Privilegien zu sichern. Mögliche Konkurrenten wurden früh und radikal ausgeschaltet; für sich selber aber nutzte man alle erdenklichen Freiheiten und baute Netzwerke auf, die den Reichtum der Besitzenden sicherten und alle anderen zuverlässig außen vor hielten.

Der Wille Gottes spielte dabei eine zunehmend unwichtigere Rolle, und der Einfluss konservativer, traditioneller Theologie nahm ab. Der Tempel in Jerusalem, die anderen Heiligtümer im Land, die es damals noch gab, die Priesterschaft und die Lehrer passten sich an das existierende System an und predigte und lehrte in seinem Sinn – eine Art erfolgsorientierte Theologie, die im Reichtum des Einzelnen und seiner Familie ein Zeichen des Wohlwollens Gottes sah und darin Seinen Segen erkannte, während Armut und Krankheit als Beweis einer verborgenen Sünde und des Zornes Gottes angesehen wurde.

Es waren einzelne Propheten wie Amos oder eben Hesekiel, die gegen diesen vorherrschende Ideologie anredeten und so den Zorn der Mächtigen und später auch der „einfachen“ Leute auf sich zogen, weil sie mit ihren sozialkritischen Reden nicht nur die Regierenden und die Reichen anklagten, sondern immer wieder auch die „einfachen Leute“, die „Stillen im Lande“, die sich diese Behandlung gefallen ließen und im Rahmen des Systems mit spielten, um auf ihre Weise für sich selbst Vorteile zu sichern auf Kosten der noch mehr Benachteiligen. Letztlich hatten auch hier die Gebote Gottes zunehmend weniger Einfluss.

Der Predigttext aus dem Buch des Hesekiel ist eine solch anklagende Rede gegen die Mächtigen und gegen die Menschen, die ihnen nacheiferten. In der damals üblichen Bildsprache wendet sich Hesekiel gegen die Einflussreichen, die sich gern als „Hirten“ bezeichnen ließen – ein bekanntes Bild aus der Zeit, als Israels Könige noch wirkliche Macht hatten und nicht Vasallen der mächtigen Staaten Ägypten oder Babylon waren. Die Idee hinter der Bezeichnung „Hirte“ war ein Verhältnis zwischen dem Regenten und seinen Untertanen, das auf gegenseitigem Vertrauen basiert, eine Art Staatsvertrag, in dem der König das Volk schützt und für Recht und Gesetz eintritt und im Gegenzug Anspruch auf Unterstützung und Loyalität hat. Noch davor galt diese Beziehung des Hirten und seiner Herde als ein Bild für den Bund zwischen Gott und seinem Volk Israel – Gesetze und Ordnungen in Israel waren schon vor der Zeit der regierenden König im Land, zur Zeit der Richter, durch das Bezogen-sein auf Gott geordnet. Das Gesetz Gottes, die Thorah, und ihr Kernstück, die zehn Gebote, regelten das Miteinander der Menschen in allen Bereichen des Lebens.

Insofern war das alte Israel ein Gottesstaat, doch die alte Ordnung zerfiel zusehends, und einzelne Propheten wehrten sich und predigten gegen die säkularisierte Verfassung und den Verfall der Tradition.

Hesekiel kritisiert mit scharfen Worten die Korruption und die Gottvergessenheit der Regierenden und der Priester. Sie haben als „Hirten“ versagt und die Aufgabe nicht erfüllt, die sie als Diener und Beauftragte Gottes zu erfüllen hätten. Sie haben nicht für die ihnen anvertrauten Menschen gesorgt und sich stattdessen selbst bereichert und ihre eigene Macht gesichert. Gott wird ihnen ihr Amt nehmen, sie verurteilen und selbst wieder als „Hirte“ Israels auftreten, die Seinen führen und leiten und für die ihm entsprechende Ordnung sorgen.

Jesus hat in seiner Verkündigung oft Gedanken aufgenommen, die im Buch des Propheten, in den Schriften des Alten Bundes, zuerst geschrieben waren: die Barmherzigkeit gegenüber den Armen, den Witwen und Waisen und den Fremden im Land war über lange Zeit ein Kern seiner Botschaft. Auch er hat – so wie der Prophet Hesekiel – sich zuerst vor allem gegen den Mächtigen gewendet, dann aber zunehmend alle Israeliten in den Blick genommen, denn auch die „einfachen Leute“ sind nur zu leicht bereit, für den eigenen Vorteil die Ordnungen Gottes zu vergessen. In der „Bergpredigt“ und in anderen großen Reden Jesu nimmt er fast wörtlich die Intention der Predigten Hesekiels auf.

Auch Jesus hat – unter gänzlich anderen Bedingungen – die Orientierung der Politik in Israel an den Ordnungen der Thorah gefordert, die er vor allem sozial interpretierte und im Konfliktfall eher nach dem Nutzen für die armen und bedürftigen Menschen fragte. Selbst grundlegende Ordnungen wie z.B. das Sabbat-Gebot ordnete er dem unter – wo Not ist, kann und muss auch der Sabbat gebrochen werden. Die Gesetze Gottes werden von Jesus nicht wörtlich interpretiert, sondern ihrem Sinn nach als Äußerung des menschenfreundlichen Willens Gottes gesehen.

Martin Luther war – wie viele andere Theologen zu ihrer Zeit – genötigt, diesen Widerspruch theologisch zu bearbeiten. Auch zu seiner Zeit regierten in Deutschland Kaiser, Könige und Fürsten, und Luther stellt diese Ordnung nicht in Frage. Er betont aber ihre Vorläufigkeit. Unter Berufung auf das , was Paulus im Brief an die Römer schrieb, sieht er in der weltlichen Regierung Gottes Hand am Werk – allerdings seine „linke Hand“. Die „rechte Hand“ dagegen ist für die geistlichen Dinge zuständig, für die Ordnung des Reiches Gottes.

Obwohl sich auch zu Luthers Zeiten Könige und Kaiser als von Gott eingesetzte Obrigkeit verstanden, haben sie nicht mehr die selbe Vollmacht wie in Zeiten vor der Reformation – die Gewissensfreiheit des Einzelnen tritt neben den Untertanen-Gehorsam, die eigene Vernunft neben die Autorität der Theologen, und der Einfluss der Herrschenden wird begrenzt auf das Reich zur Linken, also die das Leben in dieser Welt betreffenden Dinge. Wir können heute kaum noch verstehen, was für ein gewaltiger Umbruch das damals war… Das reformatorische Deutschland war kein Gottesstaat mehr, sondern ein Staat, in dem das Gewissen des Einzelnen als Begründung der Gesetzgebung galt.

Heute haben wir in unserer gesellschaftlichen Ordnung eine „Trennung von Staat und Kirche“ – allerdings ist diese Trennung nicht so vollständig, wie es zum Beispiel in Frankreich verwirklicht ist. Es gibt einen Staatskirchenvertrag über die Entschädigung, der der Staat an die Kirche für enteignete Ländereien zahlt, es gibt ein Mitspracherecht der Kirche im Bereich von Kindergarten und Schule, Kirchliche Experten sitzen in der Ethikkommission und um Ethikrat des Bundestages und Kirche hat einen festen Platz im öffentlichen Rundfunk und Fernsehen.

Auch in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gibt es immer noch einen Hinweis auf die Verantwortung vor Gott, auch wenn dieser Hinweis sehr umstritten ist und vor drei Jahren beinahe entfernt worden wäre. Deutschland ist aber kein Gottesstaat im alten Sinn, und wenige Entscheidungen, die die Regierung trifft, werden durch Argumente begründet, die mit dem Glauben an Gott zu tun haben. Unser Staat ist kein Gottesstaat und unsere Kirche ist keine Staatskirche – aus gutem Grund stehen beide nebeneinander, aufeinander angewiesen und doch weitgehend unabhängig.

Christinnen und Christen sind aber Teil dieser Welt, mündige Bürgerinnen und Bürger unseres Landes – und gerade als glaubende Menschen haben sie meiner Ansicht nach auch die Aufgabe, diese Gesellschaft und ihre Gesetze und Ordnungen mit zu gestalten. Oft wird die Politik als „schmutziges Geschäft“ angesehen, bei dem man nicht mit tun kann, ohne korrumpiert zu werden. Oft hört man in christlichen Kreisen ein resigniertes „Ich kann ja doch nichts ändern…“ Beides ist falsch!

Auch wenn wir die Welt nicht retten können, können wir doch im Kleinen, in unserem Umkreis, helfen, dass sie ein bisschen besser wird. Kritik an einer Regierung, die falsche Schwerpunkte setzt, Widerspruch gegen Korruption und Bestechlichkeit, Kampf gegen Missbrauch von Schutzbefohlenen, Homophobie und Rassismus, entschiedenes Eintreten gegen die strukturelle Verletzung der Menschenrechte – alles das ist politisches Handeln und gleichzeitig gelebtes Christsein in der Verantwortung vor Gott.

Im Alltäglichen macht unser Glaube einen Unterschied: Der Glaube an den Guten Hirten wird uns dazu bringen, dass wir uns gegenseitig nicht aus den Augen verlieren – die Familie, den Freundeskreis, die Geschwister aus der Kirchengemeinde. Im Jubeln und Singen bleiben wir verbunden und erleben die Kraft des Glaubens, die sich nicht entmutigen lässt – wenn wir die Gospelsongs im Autoradio mitsingen, unter der Dusche ein Halleluja pfeifen oder die geistlichen Lieder in unseren Zoom-Gottesdiensten mit summen. Allein und gemeinsam können wir beten und die Sorgen vor Gott bringen, der sie hört und die Not von unseren Seelen nimmt. Und wir können bekennen, was wir glauben, und deutlich sagen, wenn etwas der Grundeinstellung und den Geboten Gottes widerspricht, die die Bibel uns vorgibt: Auch geistliches Leben muß geübt werden, trainiert sozusagen, für den Kampf des Lebens.

Wir sind nicht Gott, aber wir glauben an ihn. Wir müssen die Welt nicht retten, aber wir vertrauen darauf, dass er es getan hat. Und als Menschen, die aus dem Glauben leben, wollen wir unser Teil beitragen zu dem Werk, das Gott in dieser Welt tut.

Und wo selbst unser Glaube bedroht ist von der lähmenden und belastenden Not unserer Tage, hoffen wir auf die Treue Gottes, der uns gibt, was wir brauchen, über alles Bitten und Verstehen hinaus.

Feine Liturgie

Ich mag das Wort „hochkirchlich“ nicht. Meine Kollegen sagen das oft, meistens ein wenig spöttisch, wenn sie meine Entwürfe für die Liturgie an den wichtigen Feiertagen des Kirchenjahres sehen. Es stimmt; ich gebe mir immer viel Mühe mit dem Finden der richtigen Worte, in denen wir als Gemeinde im Gottesdienst zusammen beten werden, und die Tradition der evangelischen Kirche ist mir dabei eine große Hilfe.

Das Wort „hochkirchlich“ aber setzt ja voraus, dass es auch so etwas wie eine „niedrigkirchliche“ Liturgie gibt; sozusagen Abgehobenes, Anspruchsvolles für liturgische Gourmets und Normales, Modernes, Bodenständiges für Leute, die nicht die Bibel auswendig können und drei Semester Kirchengeschichte studiert haben.

Alten Pfarrerinnen und Pfarrern, die die Tradition lieben und ererbte Formen des Gottesdienstes hoch schätzen, wird ja oft vorgeworfen, sie würden über die Köpfe der Gemeinde hinweg sprechen, an alten Zöpfen festhalten und die Zeichen der Zeit verschlafen. Die Kirche wird an ihrer innerkirchlichen Sprache „verrecken“, sie wird bedeutlungslos werden, weil niemend mehr versteht, was sie zu sagen hat. Wenn sie nicht eigene Worte für das findet, was in ihr wichtig ist, wird sie unglaubwürdig, langweilig, nutzlos.

Ich kann mich erinnern, dass ich selbst als Vikar oft den Kopf geschüttelt habe, wenn meine älteren Kollegen im wöchentlichen „Pfarrdienstgespräch“ erzählten, wie sie im Urlaub Gottesdienste in anderen Gemeinden besucht haben. Sie berichteten, wie unreflektiert und flach dort die Liturgie gefeiert würde und wie zeitgeistorientiert und theologisch unverantwortlich dort gepredigt wird. – Jetzt geht es mir aber selbst oft so…

Zwar bin ich immer noch der Meinung, dass jede Gemeinde sich in ihrem Gottesdienst auf eine bestimmte Form geeinigt hat und mit dem Ablauf zufrieden ist – wie kann dann ein fremder Pfarrer sich ein abwertendes Urteil darüber erlauben? Eine „falsche“ Liturgie gibt es nicht, es gibt aber nichtssagende und unnötige Gottesdienste… Die gibt es aber sowohl in „hochkirchlicher“ Sprache als auch in den „modernen“ Formen einer Liturgie, die sich anbiedert und den Leuten nach dem Munde redet.

Ich meine, dass die verschiedenen Liturgien und die vielen Formen gottesdienstlicher Sprache ein großer Reichtum der Kirche sind und dass Beide an jeweils ihrem Ort zu recht verwendet werden sollten. Sie können und sollen korrespondieren mit den unterschiedlichen Situationen, in denen eine Gemeinde sich befindet, sei es im Kreis des Kirchenjahres, in ihrer sozialen und politischen Umgebung, in der sie wirkt, und entsprechend dem Selbstgefühl ihrer gottesdienstlichen Versammlung. Ein Gottesdienst in einer großen innenstädtischen Gemeinde, die die Osternacht feiert, muss anders singen, beten und psalmodieren als eine Gemeinde auf dem Lande, die zur goldenen Konfirmation einlädt.

Die klassischen agendarischen Formen geben einen Rahmen für die Gottesdienste, in dem eine große Freiheit und kreative Vielfalt möglich ist. Gerade weil sie ein festes tragfähiges Gerüst für die Liturgie vorgeben, in dem sich alle zu jeder Zeit orientieren können, laden diese Formen zu Variationen, unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und künstlerischen Freiheiten ein – sogar dazu, sie manchmal bewusst zu ignorieren und Erwartungen zu brechen, was manchmal für heilsame Irritation sorgt…

Ein Beispiel dafür ist der Gottesdienst am Karfreitag, der in der Agende als Buß-Gottesdienst ausgeführt ist. Dort wird die gewohnte Ordnung „auf den Kopf gestellt“, so wie der Maler Marc Chagall in seinen Bildern Häuser, Tiere und Menschen auf den Kopf stellt, wenn er ausdrücken will, dass die Verhältnisse außer Kontrolle geraten sind, Unrecht zur Normalität wurde und Widerstand zur Pflicht. Chagalls Bilder sind so trotz ihrer empfindsamen Schönheit und ihrer zarten Farben extrem kräftige gesellschaftskritische und politische Statements gegen den Zeitgeist.

Auch eine eher traditionelle liturgische Ordnung kann sich so kritisch zu Wort melden und ein wichtiges Ausrufezeichen der Kirche und der Gemeinde gegen Trägheit und Gedankenlosigkeit setzen. Die Feste, in denen an den Tod und die Auferstehung Christi gedacht wird, das jubelnde „Er ist auferstanden!“ sind ein Zeichen gegen denb Tod in jeder Form. Wenn die Osterkerze mit dem Wechselgesang „Christ, unser Licht! – Gelobt sei Gott!“ in die dunkle Kirche getragen wird, dann ist das ein Bekenntnis gegen alle Mächte der Welt, die die Gegenwart verdunkeln mit ihrem Anspruch darauf, allein Hoffnungsträger zu sein.

Eine für jeden Gottesdienst neu selbst „erfundene“ Ordnung irritiert mich (und ich glaube, die meisten Gemeinden auch), weil ich nie weiß, was jetzt als Nächstes kommt und worauf ich mich innerlich einstellen sollte. Dann bin ich immer überrascht und kann ich nicht mitbeten, nicht mit-bekennen und oft auch nicht mit-singen…

Sicher – Menschen, denen die Kirche überhaupt noch fremd ist, werden dasselbe Gefühl auch in einer traditionellen Liturgie haben. Wer aber bereit ist, sich darauf einzulassen, wird diese Formen schnell überall wiedererkennen. Ich finde es schön, wenn ich auch in einem Gottesdienst in einer fremden Sprache immer ungefähr erahnen kann, was da gerade zelebriert wird, weil ich weiß: Jetzt kommt der Psalm, jetzt das Evangelium, jetzt die Fürbitten und am Ende der Segen…

Zuletzt – eine traditionelle Liturgie bewahrt die Geistlichen auch davor, immer und überall ihre theologischen „Lieblingsideen“ einzusetzen. Der liturgische Reichtum des Gottesdienstes verwehrt die Verengung auf ein bestimmtes Gottesbild, sei es der strafende und richtende Gott, der den Gehorsam vor seinem Gebot fordert, sei es der Liebende, der sowieso für alles Verständnis hat und immer und überall alles vergibt. Liturgie ist gelebte, gesungene und gebetete Theologie und bewahrt auch für kommende Generationen die Weisheit der Jahrhunderte – wenn wir sie jetzt nicht aufgeben…