Wie Zachäus, der Unsichtbare, neu angefangen hat…
Ich bin Zachäus. Steuereintreiber für die römischen Besatzer. Sie nennen mich den Zöllner. Sagt das schon alles über mich? Ich war einmal Kaufmann. Ich bin gewohnt, mit Zahlen umzugehen, mit Bilanzen und Abrechnungen. Von den umherziehenden Händlern habe ich die Ware gekauft, Stoffe und Tücher, Kleidung, Mode aus Rom und Kreta, aus Afrika und bis aus Indien. Sogar Felle aus dem fernen Britannien und Seide aus einem fernen Land im Osten, dessen Namen ich nicht einmal kenne. Ich konnte von meiner Arbeit leben und meine Familie ernähren, und das nicht einmal schlecht. Es gab reiche Menschen genug in Jericho, die immer wieder Neues aus aller Welt haben wollten und die bereit waren, ihren Geldsack dafür sehr weit auf zu tun…
Aber immer haben mich die hohen Steuern und Zölle geärgert, die die Römer erhoben haben. Jedesmal, wenn die Wagen mit den Stoffen und Fellen durch eine größere Stadt fuhren, an jeder Grenze und fast auf allen wichtigen Brücken muste eine Gebühr entrichtet werden, wodurch mein Gewinn kleiner wurde. Und manche Beamten wirtschafteten dabei kräftig in die eigene Tasche, nahmen drei- bis vierfach höhere Zölle, als ihnen eigentlich erlaubt war.
Die Menschen in den Städten verachteten sie deswegen. Waren sie nicht Betrüger und Lügner, allesamt? Sie machten gemeinsame Sache mit den Besatzern, den Heiden, den Römern, mit denen kein anständiger gläubiger Jude etwas zu tun haben wollte! Viele spuckten vor ihnen auf den Boden oder gingen ihnen voller Verachtung aus dem Weg.
Ein Zöllner zu sein, das war kein guter, kein geachteter Beruf. Und doch: Manchmal bewunderte und beneidete ich die Steuereinnehmer. Sie schafften es, beinahe mühelos reich zu werden. In einem einzigen Jahr pressten sie den Händlern und Kaufleuten in der Stadt so viel Geld und Gold ab, wie ich in fünf Jahren nicht verdienen könnte. Ich musste mich abrackern, und denen flog das Geld einfach so zu!
Und oft habe ich mich gefragt, wie es wohl wäre, auf der anderen Seite der Tische zu sitzen, an denen man die Abgaben und Steuern, die Zölle und Gebühren zu zahlen hat. Was für ein Gefühl wäre es, wenn ich abends in meiner Stube sitzen und im Schein einer Lampe mit duftendem Öl eine Münze auf die andere legen könnte, das Gewicht von Goldenen Talern in meiner Hand spüren könnte, geblendet von dem hellen Glanz der Silbermünzen auf meinem Tisch, und wenn ich dazu noch vielleicht die eine oder andere leuchtende Perle zwischen meinen Fingern halten könnte….
Als vor einigen Jahren das Geschäft einmal nicht so recht laufen wollte, verkaufte ich den ganzen Laden und erwarb mit dem Erlös eine Lizenz als Steuereinnehmer für die Römer. Von da an durfte ich Zölle und Gebühren im Namen der römischen Besatzungsmacht erheben. Dem Kaiser reichte das Geld, dass ich für die Lizenz gezahlt hatte, und alles, was ich nun einnahm, würde mir gehören.
Zuerst hielt ich mich an die Vorschriften. Sicher, es gab Vorschriften, festgelegte Preise und Gewichte, die gelten sollten nach dem Willen Roms. Die Bedingungen waren vorteilhaft für mich und die anderen Zöllner. Bald war ich wieder in den schwarzen Zahlen, die Kosten für den Erwerb der Lizenz hatte ich schon nach wenigen Monaten wieder in meiner Kasse.
Aber dann fragte ich mich: Warum sollte nur ich mich an die Regeln halten? Ich sah es bei anderen Steuereinnehmern, dass sie das Doppelte und Dreifache nahmen, und die Leute zahlten es trotzdem. Sie schimpften mürrisch und protestierten lautstark, schüttelten grimmig die Fäuste, aber letztlich blieb ihnen doch nichts anderes übrig, als das Geforderte zu zahlen. Ich brach nicht direkt das Gesesetz, aber ich dehnte und bog die Regeln. So, wie es mir passte und wie es nützlich war für mich. Schließlich wurde ich Oberzöllner. Ich hatte die Macht. Die Autorität war ich allein – und es gab keine Stelle, an der die Übervorteilten sich hätten beschweren können.
Ich wurde sehr reich, und ich liebte es. Nun ging ich selbst in kostbaren Gewändern umher, in gewebten Stoffen aus Indien, in glänzender Seide, und ich hatte Nadeln und Bänder aus reinem Gold, wie sonst nur die Fürsten und Edelleute im Land. Ich aß von vergoldeten Tellern und umgab mich mit der Pracht des Orients. Ich genoß den Luxus und auch den Einfluß, den ich an hohen Stellen hatte – ein bisschen Gold, zur rechten Zeit in eine gierige Hand gelegt öffnet so manche Tür, so manchen Mund, so manches Herz…
Aber ich merkte auch, dass viele Leute mich nun hassten. Ich hatte mich auf ihre Kosten bereichert. Dass ich Gesetze beugte und brach, blieb ihnen nicht verborgen. Sie nannten mich einen Betrüger, verdorben und korrupt. Manche alten Freunde wollten mit mir nichts mehr zu tun haben. Andere versuchten mir, ins Gewissen zu reden. Sogar einige meiner Geschwister zogen sich von mir zurück. Aber das interessierte mich nicht. Ich hielt mich für erfolgreich und glücklich. Ich hatte es geschafft. Aber irgend etwas nagte an meiner Seele wie ein tückischer Wurm an einer Wurzel…
War das alles, was ich vom Leben zu erwarten hatte? Mein finanzieller Erfolg machte mich nicht glücklich. Im Gegenteil, oft fühlte ich mich schuldig. Das Geld, das sich in meiner Truhe sammelte, war nicht die Frucht meiner Arbeit, nicht ehrlich verdienter Lohn, sondern letztlich gestohlen. Es war nicht mein Eigentum, sondern Raub. Was wird mir die Zukunft bringen? Was wird am Ende bleiben? fragte ich mich immer wieder.
Ich fühlte mich nicht freier und unabhängiger, sondern wie besessen von meinem Reichtum. Es ist die Gier nach Gold und Geld, die immer mehr will, und der Hunger nach Macht, der keine Grenzen mehr kennt. Wenn Du die Macht hast, wenn Menschen wie Wachs in deinen Fingern sind, wenn du sie nach belieben manipulieren kannst, dann ist das ein berauschendes Gefühl. Aber wie nach jedem Rausch kommt auch hier irgendwann der Kater, der Schmerz, dieser unbändige Ekel, dass du nur noch kotzen könntest.
Ich hatte Macht über andere Menschen, aber ich habe die Macht über mich selbst verloren. Aus dem Leben, in das ich mich hinein geworfen hatte, konnte ich nicht wieder aussteigen. Ich machte mir selbst etwas vor und fühlte doch, dass ich auf dem Weg in einen Abgrund war. Und ich fing an, mich selbst zu hassen. Ich sehnte mich zurück nach der Zeit, in der ich selbstbewusst den Namen tragen konnte, den mir meine Eltern einst gaben; ich sehnte mich nach der Zeit, in denen die Menschen nicht angewidert ausspuckten, wenn sie den Namen „Zachäus“ ausgesprochen hatten. Und ich konnte ihren Widerwillen sogar verstehen.
Ich fühlte mich oft einsam und vermisste meine Freunde aus der Zeit, als ich noch ein ehrbarer Kaufmann war. Und – ich wagte es nicht mehr, in den Tempel zu gehen, vor dem Gott niederzufallen, der einst gesagt hatte: „Du sollst nicht stehlen. Betrüge nicht deinen Handelspartner, er ist wie dein Bruder. Ich bin der HERR…“
Es war für mich schon eine Wohltat, dass viele aus der Stadt begannen, so zu tun, als ob es mich nicht gäbe. Alle ignorierten mich, drehten die Augen weg, sprachen nicht mit mir. Wenn nicht jemand geschäftlich mit mir zu tun hatte, war ich für alle unsichtbar. Und wenn ich unsichtbar war, hatte ich meine Ruhe. Keinen Frieden, kein reines Gewissen, aber meine Ruhe…
Und dann kam er. Schon Tage vorher wurde davon geredet, dass er in die Stadt kommen würde: Jesus, der Wanderprediger. Der Sohn des Zimmermanns aus Nazareth, von dem man sagte, dass er vielleicht der Messias sein könnte. Das Wort, die Macht Gottes in Menschengestalt.
Unglaubliche Wunder soll er getan haben: Blinde konnten auf einmal wieder sehen, Lahme konnten gehen. Stumme konnten wieder sprechen. Und manche, die in ihrer eigenen Schuld gefangen waren, die sprachlos waren, weil niemand mehr mit ihnen redete, manchen hat er ihre Zunge gelöst und ihnen einen Neubeginn ermöglicht. Ob er das auch für mich tun würde? Ob er mich, den Unsichtbaren, wieder sichtbar machen konnte? Ob auch ich noch einmal eine Chance haben würde? Ich musste es wissen. Ich musste ihn sehen…
Sie standen alle an der Straße, als er kam. Vom Stadttor bis zum Marktplatz, alles war voller Menschen. Sie schrieen und winkten, lachten und diskutierten, klatschten und jubelten. Manche sangen oder beteten. Einige weinten. Aber keiner achtete auf mich. Wenn ich jemanden antippte, drehte der sich unwirsch von mir weg. Und es war mir ganz unmöglich, mich durch diese Menschenmenge hindurch zu drängeln. Keine Chance, ihm etwas zu zu rufen, ihn auf mich aufmerksam zu machen, nicht einmal sehen würde ich ihn können…
Aber ein paar hundert Schritte weiter, direkt vor dem Tor zum Marktplatz, standen einige Bäume. Dort rannte ich hin. Ungeschickt kletterte ich in die Zweige der Maulbeerfeige, die um diese Jahrezeit dicht belaubt war. Doch schließlich saß ich einigermaßen komfortabel über den Köpfen der Menge, von den Blättern bedeckt, und ich konnte die Strasse hinunter sehen, und ihn und seine Schüler sehen, die da im goldenen Abendlicht herangeschritten kamen.
Mein Herz blieb stehen, als er direkt unter dem Baum plötzlich stehen blieb, sich mit einem Ruck herumdrehte und mir genau ins Gesicht schaute. „Zachäus?“ sagte er. „Was machst du da oben? Komm schnell herunter und beeile dich! Ich muss heute in deinem Haus übernachten! Du hast sicher noch Einiges vorzubereiten…“
Fast muß ich vom Baum gefallen sein, so schnell stand ich unten auf meinen Füßen. Mir war schwindelig. Einmal sah ich ihn noch an, sah in sein Gesicht – und dann rannte ich. Ich rannte zu meinem Haus, in meine Küche, und ich rief den Dienern und Mägden zu, schnell ein Festmahl vorzubereiten. Denn ein Fest sollte es werden. Er hat mich gesehen! Und er würde sogar zu mir kommen, um mit mir zu essen. Und bei all dem fragte ich mich: „Wieso hat er gesagt „Ich muss“?“
Lange haben wir geredet in dieser Nacht, Jesus und ich. Und er sagte mir, dass es nur meine Angst ist, die mich hindert, neu zu beginnen. „Ist dein Glaube so klein?“ fragte er mich immer wieder. Ich hatte Angst, mit meinem Vermögen auch meine Sicherheit zu verlieren. Die Achtung und den Respekt der Menschen zu verlieren. Ich hatte Angst, nicht mehr unabhängig und frei zu sein. Und ich begriff, dass ich all das sowieso schon längst verloren hatte. Sicherheit, Angst, Respekt, Selbstachtung und Würde hatte ich längst verloren. Was kann nun denn noch gesechehen?
Er hat mich ermutigt, neu anzufangen. Neu zu denken. Und anders zu handeln als bisher. „Es hilft nicht, nur schöne Worte zu machen!“ sagte er. „Schöne Worte – das konntest du schon immer gut. Du musst runter von dem Baum, in dem du dich versteckst. Du musst unter die Menschen. Geredet hast du genug. Nun geh hinaus und ändere, was du tust!“
Ich werde das tun, sagte ich ihm. Ich werde allen, die ich betrogen habe, zurück geben, was ich ihnen schulde. Ach, dreifach, vierfach gebe ich es ihnen zurück! Und von dem, was mir dann bleibt, gebe ich dir Hälfte den Armen und Bedürftigen.
Jesus sah mich begeistert an, liebevoll, und seine Augen glänzten: „So hast Du also endlich den Frieden gefunden. Du wirst die Wunden heilen, die du anderen zugefügt hast, und sie werden bekommen, was ihnen von Rechts wegen zusteht. Aber noch mehr: Du wirst Frieden finden in Dir selbst und Frieden zwischen Dir und deinem Gott.“
Das habe ich dann wirklich getan. Auf dem Marktplatz zahlte ich zurück, was ich den Betrogenen abgenommen haben. Noch jetzt kommen Handelsreisende aus fernen Ländern nach Jericho und sehen mich verwundert an, wenn ich kleine Türmchen aus goldenen Münzen auf den Tischen vor ihnen staple. Ich zahle meine Schulden zurück. Und in manches Gesicht zaubert das ein breites Lächeln, wo vorher nur verkniffene Lippen waren. Ich habe viele Freunde wieder gewonnen.
Manche lachen mich aus, schütteln die Köpfe über mich. Aber auch über Jesus haben sie die Köpfe geschüttelt. Sie haben ihm Vorwürfe gemacht, dass er bei mir gegessen und geschlafen hat in dieser Nacht. „Bei diesem Römerfreund! Bei diesem Lügner und Betrüger! Warum nicht bei Simon, dem Gerechten? Warum nicht bei Obadja, dem Heiligen? Warum nicht bei einem der Priester und den Leherern der Synagoge hier am Ort? Wie kann der heilig sein, wenn er sich mit solchem Gesindel abgibt?“ Sie haben nicht verstanden, warum Jesus bei mir wohnen „musste“. Sie werden wohl auch nicht verstehen, wie herrlich es ist, wenn Gott Sünden vergibt und den Sünder befreit. Wenn er die Chance gibt, neu anzufangen. Wenn er den Unsichtbaren wieder sichtbar macht.