Ach, Gott, du weißt schon…

Warum ich bete, ist schwierig zu erklären. Jemand, der selbst auch gläubig ist, wird auch selbst beten und wird selbst wissen, warum er das tut. Jemandem, der nicht an Gott glaubt, wird schwer klar zu machen sein, warum ein Gebet etwas anderes ist als ängstliches Pfeifen im Dunklen oder ein Gespräch mit dem unsichtbaren Phantasiefreund in der Kinderzeit.

Als erwachsener Mensch mit einer modernen, auch in den Naturwissenschaften geübten Bildung fällt es mir nicht ein, in meinen Gebeten ganz einfach Bitten um ein übernatürliches Eingreifen Gottes auszusprechen, so wie ich es als Kind eine Zeit lang ziemlich selbstverständlich getan habe: Wenn ich einen Schlüssel verloren habe, wenn ich mir eine gute Note in einer Prüfung gewünscht habe, wenn ich Zahnschmerzen habe – dann habe ich gebetet. Es steht doch schon in der Bibel: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich hören, und du sollst mir danken!“ Mir fällt aber oft nicht mehr ein als innerlich zu seufzen: „Ach Gott… Du weißt schon!“

Auch viele erwachsene Christenmenschen beten so, und wenn ich mir die Gebete in den liturgischen Büchern der Kirchen in Deutschland ansehe, ist es auch in den gemeinsamen Gebeten im Gottesdienst nicht anders. Um Frieden in der Welt wird da gebetet, um genügend Nahrung für alle Menschen, um Gesundheit und Glück für die Menschen in der Gemeinde und um ein glaubwürdiges und wahr-nehmbares Anteilnehmen der Kirche an den Aufgaben der Gesell-schaft. Wir beten um Schutz für unsere Kinder, um Bewahrung während einer Reise, um Erfolg bei unserer Arbeit und um einen sanften und schmerzfreien Tod für die, denen nichts anderes mehr helfen kann.

Wer aber ernsthaft so betet, der glaubt auch, dass Gott in den Alltag der Glaubenden eingreift, sozusagen Schutzengel schickt, die Unfälle verhindern und Viren unwirksam machen; wer betet, der glaubt, dass Gott Generälen, Politikern und Wirtschaftsbossen neue Gedanken und Ziele in die Köpfe pflanzt, damit sie das Wohl der Umwelt und der Völker über ihren Egoismus stellen… Wer ernsthaft so betet, der erwartet Wunder.

Wenn ich nicht mehr an diese Art Wunder glauben kann, kann ich dann auch nicht mehr beten? Wenn ich das Gefühl habe, dass Gott ganz weit weg oder sogar unerreichbar für mich ist, wer hört dann mein Gebet? Wenn ich glaube, dass die Welt nach mathemathischen und physikalischen Gesetzen funktioniert und selbst Gott diese Regeln nicht bricht, weil jemand betet – welchen Sinn hätte das Gebet dann noch? Wenn ich erfahre, dass mein Gebet unerhört und wirkungslos bleibt, habe ich dann nur nicht ausdauernd genug, nicht kräftig und energisch genug gebetet? Hat es mir an dem wahren Glauben gefehlt?

Im Lukas-Evangelium wird erzählt, dass die Jünger Jesus fragten, wie man denn „richtig“ beten solle. Jesus antwortete ihnen, dass das Gebet nicht eine Art Schauspiel sein soll, eine Performance, mit der wir andere Menschen beeindrucken wollen. Gott hört uns nicht besser, wenn wir viele Worte machen; und wir sollen unser Gebet nicht missbrauchen, um Frömmigkeit zu demonstrieren und unsere Glaubenskraft anderen vor Augen zu stellen. Wer so betet, sagt Jesus, der hat seinen Lohn schon dahin.

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Als Beispiel für ein richtiges und angemessenes Gebet gibt Jesus seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern das „Vater unser“. So sollt ihr beten, nicht mit vielen Worten, nicht gierig oder selbstgerecht, sondern glaubend und vertrauend, weil ihr wisst, dass ihr in Gottes Händen seid und von Seiner Gnade lebt:

Der Anfang des Gebets setzt eine tiefe, vertraute Beziehung voraus. Jesus sagt: „Ihr dürft Gott Vater nennen!“ Gebete richten sich nicht an eine unpersönliche Macht, nicht an eine nebulöse Geistkraft, nicht an das Universum. Unser Gebet hat eine Adresse, ein egenüber, jemanden, der zu hört. Gebete sind nicht nur Meditation oder Atem-übungen. Wer betet, vertraut auf die Treue und die Liebe Gottes. Jesus ist dafür zuerst das Bild vom Vater in den Sinn gekommen; er hat wohl immer so gebetet: „Abba! Lieber Vater!“ Seine Hände haben uns geschaffen, in seinen Händen leben wir, in seine Hände kehren wir zurück. Ohne ihn sind wir nichts, aber durch ihn ist uns alles gegeben. Darauf sollen wir vertrauen, dies ist der Grund unserer Hoffnung.

Aber die Bitten, die Jesus seinen Jüngern in den Mund legt, sind nicht die diesseitsbezogenen Wünsche, die wir so oft vor Gott bringen. Die erste Bitte beginnt bei Gott und bleibt auch gleich bei Gott stehen. Dein Name werde geheiligt. Geehrt und gewürdigt sein soll der Name Gottes, nicht mißbraucht, um Menschen zu verführen oder zu manipulieren. Gott soll nicht benutzt werden, um eigene Ziele zu erreichen, auch sein Name soll nicht eigene Fehler beschönigen oder Hintergedanken vertuschen. Mit Ehrfurcht und Respekt soll der Name genannt werden.

Martin Luther schreibt zu dieser Bitte: „Der Name Gottes ist zwar in sich selbst heilig und würdig, darum bräuchte es diese Bitte eigentlich nicht; wir bitten aber, dass er auch bei uns geheiligt werde.“ Gerade im Gebet wird der Name Gottes auf die richtige Art geheiligt, nämlich darin, dass wir ihn voller Vertrauen und Glauben aussprechen. So lassen wir Gott Gott sein und richten uns nicht länger selbst den wichtigsten Platz in unserem Leben und in der Geschichte ein.

Ebenso bleibt auch die zweite Bitte ganz bei Gott. „Dein Reich komme!“ Luther schreibt dazu: Gottes Reich kommt auch ohne unser Gebet von selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, daß es auch zu uns komme. Ohne den Namen Gottes für die eigene Einstellung zu mißbrauchen wird hier auch ein starkes politisches Statement gesetzt: Die Reiche dieser Welt vergehen, aber Gottes Reich bleibt bestehen. Die Herren dieser Welt haben ihre Zeit, aber sie wird einst Vergangenheit sein. Aber unser Herr kommt, sein Reich beginnt in unserer Mitte und wird vollendet zu seiner Zeit. Mit dieser Bitte bekennen wir unseren Glauben und erinnern uns selbst daran, daß er unsere Zukunft ist.

Genau so beschreibt Luther auch die dritte Bitte: „Dein Wille geschehe!“ Gottes Wille geschieht in dieser Welt. Wir beten aber, daß auch bei uns, bei denen, die so beten, Gottes Willen geschehen soll.

Erst jetzt, bei der vierten Bitte, nimmt Jesus die Dinge dieser Welt in den Blick. „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Hier wie nirgendwo sonst bekennen wir, dass wir abhängig sind von allem Guten, das Gott uns gibt, und dass wir es uns trotz aller Wissenschaft und mensch-lichen Weisheit nicht selbst geben können. Was wir zum Leben brauchen, ist Geschenk und Gabe Gottes.

Sonst müsste ich ja nicht bitten. Für mich selbst. Für andere. Für diese Welt. Es fehlt uns das tägliche Brot oder die liebevolle Umarmung. Es fehlt uns das Reich der Gerechtigkeit. Uns fehlt die Herrlichkeit, die Kraft. Es fehlt uns die Gewissheit, es richtig zu machen.

Beten heisst auch: Gott an mich ran lassen. Ganz nah. Mich öffnen, ihm diese Stelle in meiner Seele zeigen – dunkel wie die Tiefsee, dort, wo ich mir selbst ein Rätsel bin. Und jene andere, scharf wie ein Messer, gnadenlos gegen mich selbst und gegenüber anderen Menschen. Aber auch die: so bunt und wuchernd und lebendig, dass ich meine, sie verbergen zu müssen, zu unpassend erscheint sie. Jetzt, wo unser Außen so klein geworden ist, wird unser Innen womöglich groß und größer. Und dann hilft nichts als Beten.

Es hilft, das Unverfügbare zu denken: Die Welt ist nicht in unsrer Hand. Und auch nicht die, die wir lieben – so sehr wir uns um sie sorgen. Ich selbst bin nicht in meiner Hand. Aber da ist etwas. Vater. Mutter. Himmel. Macht hell und vergibt. Da ist etwas. Einer. Eine. JHWH. Wir atmen seinen Namen. Sein Reich komme. Sein Wille geschehe. Tag für Tag gibt er, was wir brauchen. Gott – größer als wir. Von ihm kommen wir. Zu ihm gehen wir. Er weiß, was Not tut, schon bevor wir bitten. Und manchmal: obwohl wir um Anderes bitten.

Und das geht überall. „Im stillen Kämmerlein“ sagt Jesus. Das kann das Wohnzimmer sein, die Küche, die Wäschekammer, das unaufgeräumte Kinderzimmer. Oder das Bad mit dem Spiegel, in dem ich mich selbst ganz ungeschminkt sehe. Das kann auch das Büro sein, oder die Schule. Das stille Kämmerlein kann überall sein. Welcher Ort ist Deiner, wenn du für dich sein willst? Vielleicht ist da ein guter Ort um zu beten. Vielleicht reicht es auch, irgendwo zur Ruhe zu kommen.

Wenn Wir beten, dann hört Gott zu. Im Verborgenen kann ich mit ihm reden. Da sieht mich keiner, wenn ich weinen muss, oder nicht mehr weiter weiss. Dann kann ich beten, dann muss ich nicht viele Worte machen, dann kann ich mich meinem Vater in die Arme werfen: Lieber Gott, du weisst schon.

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