Was in einer normalen Firma das Vorzimmerbüro ist, das ist in einer Kirchengemeinde die Küsterei: Dort kommen Kunden bzw. Gemeindeglieder zuerst an, hier findet der erste Kontakt statt. Die Besucher nennen ihre Wünsche, beschweren sich, machen Vorschläge, geben Bestellungen auf und so weiter, und der Küster kümmert sich dann selbst um viele Dinge, stellt Patenbescheinigungen aus, fertigt beglaubigte Auszüge aus den Kirchenbüchern an, organisiert die Belegungspläne der Gästewohnung und des Festsaals, informiert über Termine von Taufen, Hochzeiten und Bestattungen; alles Dinge, bei denen der Pfarrer gar nicht gebraucht wird. Vor diesen Alltäglichkeiten wird er abgeschirmt, damit er sich um seine eigenen Aufgaben kümmern kann: Seelsorge, Bestattungen, Unterricht, Krankenbesuche, Gottesdienste – und nur hin und wieder kommt jemand, den
der Küster sozusagen weitergeleitet hat, weil es ein Problem gab, das er nicht selbst lösen konnte.
Wenn der Küster aber einmal krank ist und auch die lieben Gemeindeglieder, die sonst die Vertretung übernehmen, im Urlaub sind oder aus anderen Gründen nicht können, dann muss sich der Pfarrer selbst in die Küsterei setzen… Das ist jedes Mal eine Art reality check, da bekommt er mal mit, was da draußen in der Gemeinde wirklich los ist.
Um halb zehn blubbert der Kaffee durch die Kaffeemaschine in der kleinen Küche am Ende des Flures im Gemeindehaus. Die wird morgens immer als erstes eingeschaltet, noch vor dem Computer. Ich weiß, dass der Küster das auch so macht; warum sollte ich diese Reihenfolge nun ändern? Während der drei bis fünf Minuten, die der altersschwache Rechner braucht, um seine Betriebstemperatur zu erreichen, höre ich den Anrufbeantworter ab…
Das Bestattungshaus Lammfromm & Peinlich bittet um einen Termin für eine Trauerfeier in der Dorfkirche; der Klempnermeister B. Haebig verspricht zum dritten Mal in dieser Woche, dass er heute ganz, ganz wirklich kommen wird, um die undichte Dachrinne zu reparieren, und Frau Kümmering, eine Mutter, die sonst am Dienstag vormittags die Krabbelgruppe für die Babys zwischen fünf und fünfzehn Monaten leitet, sagt wegen der Erkältung ihres eigenen Windelpupsers ab; sie will nicht riskieren, dass die anderen Kinder angesteckt werden. Die anderen Mütter würden aber allein zu recht kommen, sie kennen ja die Regeln, und es müsste nur jemand morgen früh die Tür aufschließen…
Das war es schon, mehr ist nicht auf dem Anrufbeantworter… Gut so, keine Notfälle und keine Katastrophen. Ich mache mir ein paar Notizen und stelle die Telefonanlage um, damit der Anrufbeantworter nicht auch zu den Büroöffnungszeiten die Anrufer erschreckt. Inzwischen ist auch der Computer hochgefahren, von dem alten Röhrenmonitor grinst mich die Freundin des Küsters an, und direkt auf ihrer Nase prangt das Symbol, auf das man klicken muss, um das Email-Programm zu starten. Einen komischen Humor hat der Küster ja; ob der zu Hause auch immer seiner Freundin auf die Nase drückt, damit sie ihm die neuesten Nachrichten vom Tage erzählt? Ich hole mir erst einmal meinen Kaffee aus der Küche, und während der Duft die Küsterei zu einem irgendwie heimeligen Ort macht, lese ich die Betreffzeilen der übers Wochenende aufgelaufenen Emails: Ein Brief vom Bischof mit einer Erklärung zur Situation der Christen in der Türkei, eine Einladung zu einem Taizé-Gottesdienst mit der Bitte, diese im nächsten Gottesdienst der Gemeinde vorzulesen, die Statistik über die Erträge der Sammlung für Brot für die Welt. Auch hier nichts Ungewöhnliches oder Beunruhigendes…
Es könnte ja sein, dass das mal ein ganz ruhiger Vormittag wird und ich mal Zeit habe, ganz gemütlich einen Blogeintrag zu komponieren und danach den einen oder anderen Geburtstagsbrief zu schreiben…
Eine Viertelstunde später stehen sechs Leute hier im Büro. Zuerst kam Erika aus dem Kirchhofsbüro, sie brauchte Unterschriften, damit sie die Gebühren für Gärtner, Musiker und Sargträger überweisen kann. Kurz danach kam Philippe, der Kirchenmusiker, der nur mal eben etwas kopieren wollte und der nun gemeinsam mit Erika meine Kaffeekanne leer trinkt und ihr immer wieder tief in die Augen sieht. Dann kam Frau Helena Springer, um mir mitzuteilen, dass sie immer noch sehr unzufrieden darüber ist, dass ihr Nachbar jeden Abend bis halb zwölf in die Nacht laute Musik in seiner Wohnung hört, obwohl der doch weiß, dass die Wände im Gemeindehaus so hellhörig sind…
Während sie noch schimpft, kommt ihr Nachbar Kurt Bauer und beginnt einen Streit mit ihr, weil sie kurz vor Mitternacht noch mit ihrem Krückstock gegen die Wand in ihrer Wohnung gehämmert hat, obwohl sie doch weiß, dass die Wände im Gemeindehaus so hellhörig sind…
Und zuletzt kommen noch die Kessler-Zwillinge (die heißen nicht wirklich so, aber niemand in der Gemeinde kennt ihren echten Namen und sie nennen sich auch selbst so) und wollen die Geburtstagsbriefe in die vorgestempelten Briefumschläge eintüten, das machen die beiden ehrenamtlich, und die Briefumschläge hat der Küster zum Glück schon letzte Woche vorbereitet. Jetzt aber futtern die beiden erst einmal die Büro-Keks-Schüssel leer, während Erika und Philippe in der Küche die Kaffeemaschine überreden, eine zweite Kanne von dem braunen Zaubertrank zu brauen…
Nach einer halben Stunde gelingt es mir endlich, die vergnatzten Nachbarn raus zu werfen; Erika und Philippe haben sich in die Kirche verzogen, um dort an der Orgel „zu üben“, und die Zwillinge reden und lachen im Sonnenzimmer, während sie bei ihrer Arbeit noch mehr Kekse essen und noch mehr Kaffee trinken…
Ich habe vergessen, was ich eigentlich in mein Blog schreiben wollte, außerdem habe ich jetzt auch gar keine Zeit mehr für schriftstellerische Tätigkeiten, also mache ich mich an die Geburtstagsbriefe… Alle zwei Monate laden wir die Gemeindeglieder, die über siebzig geworden sind, zu einem Geburtstagsfrühstück in den Festsaal der Gemeinde ein. Sie bekommen als Einladung eine Karte mit einem Foto – dem schönen bunten Kirchenfester in der Dorfkirche -, dazu das Gemeindeblatt und eine Antwortkarte, die sie zurückschicken sollten, damit wir dann auch genug Kuchen da haben, wenn der große Tag kommt… Normalerweise habe ich den Ehrgeiz, in diese Einladungen ein paar humorvolle und durchdachte Anekdoten hinein zu schreiben, aber inzwischen habe ich Kopfschmerzen, und der Text gelingt mir nicht. Vielleicht haben diese Einladungsbriefe ja doch noch Zeit bis Mittwoch…
Um halb zwölf läuten die Glocken der Dorfkirche herüber, durch das Fenster sehe ich, dass da fünfzig Leute vor der Kirche auf eine Trauerfeier warten. Der Verstorbene ist katholisch, darum macht der Pater unserer römischen Nachbargemeinde diese Trauerfeier. Auf unserem Kirchhof liegen Evangelen und Katholen einträchtig nebeneinander, das war hier in Schöneberg nicht immer so, aber seit gut vierzig Jahren funktioniert das ökumenische Miteinander an unserer Straßenecke ganz ordentlich; sogar die Glocken in unseren Kirchtürmen harmonieren miteinander; na, wenn das nichts ist.
Der Klempner ist tatsächlich gekommen, ich mache drei große rote Kreuze in den Kalender, aber jetzt steht er hier vor mir und beschwert sich, dass er mit seinem Werkstattwagen nicht auf das Gelände kommt, weil alles mit den Autos der Trauerfeier-Gäste zugeparkt ist. Er musste die Gasflaschen mit dem Acetylen vom Parkplatz hier her tragen, und die sind schwer… Er guckt mich an und erwartet, dass ich jetzt schuldbewusst gucke und ihn bemitleide. Das tu ich aber nicht, dafür bekommt er die letzte Tasse Kaffee, und das beruhigt ihn etwas. Er trinkt schnaufend seinen Milchkaffee in sich hinein, und dann verzieht er sich, und eine Viertelstunde später höre ich ihn auf dem Dach rumoren… Er ist nicht nur pünktlich da, er tut sogar was, ausgezeichnet!
Zehn Minuten später steht eine aufgebrachte Frau vor „meinem“ Schreibtisch, der Schreibtisch und ich haben uns inzwischen richtig miteinander angefreundet… Die Frau habe ich aber noch nie vorher gesehen. Sie ist sehr wütend und schreit fast, was uns denn einfiele, und wieso denn alle Parkplätze belegt seien, und sie müsste doch einkaufen… Nach einer Weile verstehe ich, dass sie mit unserer Gemeinde gar nichts zu tun hat, aber jede Woche im Supermarkt auf der anderen Straßenseite einkauft und dabei mit ihrem Kleinwagen auf unserem Parkplatz parkt. „Und jetzt ist da alles voll, das ist eine Frechheit, das lasse ich mir nicht bieten…“
Ich erkläre der Frau so freundlich, wie ich es kann, dass der Parkplatz der Gemeinde Privatgelände ist und sie hier nur parken darf, wenn sie in der Gemeinde oder auf dem Kirchhof oder in der Diakoniestation etwas zu tun hat, ansonsten müsste sie ihr Auto auf den Parkplatz des Supermarktes stellen… „Ja, aber die nehmen einen Euro pro Stunde Parkgebühren, und hier ist es umsonst!“ Ich erkläre der Frau noch einmal, dass unser Parkplatz nur für die Besucher der Kirche ist. „Ja, aber ich zahle doch Kirchensteuer, und wenn ich hier nicht parken darf, dann trete ich eben aus!“ Sprach’s und verschwand und ward nicht mehr gesehen…
Viertel nach zwölf, kurz vor Feierabend wird es draußen auf dem Flur noch einmal laut. Eine betrunkene Frau hat sich aus der Kneipe nebenan zu uns verirrt… Die Kneipe heißt Geisterbahn und hat diesen Namen auch verdient, dreiundzwanzig Stunden am Tag hängen in und vor dem Lokal leicht, mittel und stark Alkoholisierte herum…
Diese Frau hat den Weg nach Hause nicht mehr gefunden, sitzt jetzt im Flur des Gemeindehauses und weint lautstark, und wo sie doch schon mal hier ist, will sie unbedingt mit dem Pfarrer sprechen… Hm, ja, das bin ich doch.
„Sie sind der Pfarrer?“„Ja…“
„Sie sehen aber nicht so aus…“
„Naja, den Talar und das alles hab ich ja nur an, wenn Gottesdienst ist,
und heute sitze ich nur im Büro…“
„Ok, also, wenn sie der Pfarrer sind, dann muss ich ihnen was sagen…“
„Gut, ich höre zu.“
„Gestern abend hab ich im Fernsehen einen Film über Jesus gesehen,
wie der gelebt hat und was der gemacht hat, so Kranke geheilt und Leute gesegnet und so.
Ich hab immer gedacht, das sind nur so Geschichten,
aber wenn es im Fernsehen kommt, dann muss das doch stimmen, oder?“
„Ja, ich hab gehört, dass die im Fernsehen meistens ganz sorgfältig recherchieren…“
„Und am Schluss haben die gezeigt, dass die Römer
den Jesus ans Kreuz geschlagen haben, und da ist der dann gestorben.“
„Ja, und?“
„Sie wissen davon?“
„Ja.“
„Na, wenn sie das wissen, wieso hat dann die Kirche nichts dagegen gemacht?“
Was soll man da antworten? Ich habe genug für heute. Drei Stunden im Büro haben mal wieder gereicht, dass ich weiß, wofür unser Küster eigentlich sein Geld bekommt…