Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.
Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben. Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bitte den Herrn, dass er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk.
Da sprach der Herr zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.
4. Buch Mose, Kapitel 21, Verse 4 bis 9
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Da ist sie wieder, die alte Frage: Wie kann Gott das zulassen?
Er selbst war es doch, der Moses berufen hat, mit den Israeliten aus Ägypten zu fliehen. Mit großen, unfassbaren Wundertaten hat er selbst die Israeliten begleitet und geführt, hat das Meer geteilt, so dass Israel mit trockenen Füßen hindurch ziehen konnte, hat die unbesiegbare Armee des Pharao vernichtet, so dass kein Reiter, kein Pferd, kein Streitwagen übrig blieb. Am Berg Sinai hat er den Seinen die Tafeln des Bundes gegeben, die zehn Gebote, die mit den Worten beginnen „Ich bin der Herr, dein Gott…“
Wo hat man es jemals gehört, dass Gott sich so mit seinen Leuten verbindet, dass er sich in einem Vertrag verpflichtet und schwört: „Ich will euch segnen, und ihr sollt ein Segen sein für alle Völker der Welt…“? Voller Staunen über diese Wunder waren sie, die anderen Völker, und Entsetzen ergriff sie über die machtvollen Taten, die Gott für Israel tat.
Aber dann kippte die Stimmung. Nach Jahren in der Wüste wurden die Menschen mürrisch, sie wurden sogar der Wunder Gottes überdrüssig. So sind wir wohl, wir Menschen, wir können uns an Hunger und Not gewöhnen, aber auch an Überfluss und Reichtum, und irgendwann tritt Gewöhnung ein und Langeweile, und wir werden unzufrieden mitten im Segen, wir spüren Hunger mitten im Überfluss, den Gott schenkt.
Und so murrten sie nicht nur über Moses, der alles Menschenmögliche tat, um das Volk sicher durch die Wüste zu bringen, vorbei an den anderen Völkern, die ihre Besitzansprüche mit Waffengewalt verteidigen würden, vorbei an den trockenen Tälern des Todes, in denen es kein Wasser gab und in denen Mensch und Tier elend zugrunde gehen mussten, weiter in immer neue sichere Oasen, wo sie sich erholen und neue Kraft schöpfen konnten – sie murrten auch gegen Gott, der ihnen die Gebote gegeben hatte und der sich ihnen zu eigen erklärt hatte in diesem Bund, in dem es hieß: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben…
Reden aus Angst übertönten die Worte des Vertrauens, Aufruhr zerstörte den Frieden, Eigensinn vernichtete die Gemeinschaft, Hass besiegte die Liebe und die Versprechen der Vergangenheit wurden vergessen ebenso wie die Verheißungen einer besseren Zukunft.
Und da waren sie plötzlich, diese kleinen, so tödlich giftigen Schlangen. Sie schlichen in Zelte, versteckten sich unter Decken, lauerten unter den Sätteln der Reittiere, waren sogar in den Betten, und selbst auf den Toiletten war man nicht sicher. Sie waren überall, und ihr Biss brachte den Tod. Schmerzhaft waren die Wunden, die unscheinbaren roten Punkte am Arm, am Bein, am Gesäß, und von diesen vergifteten Wunden aus breitete sich eine quälende Hitze durch den ganzen Körper. Wer gebissen war, hatte nur noch wenige Tage, in denen er sich schwitzend im Krankenbett hin und her wälzte, bis endlich der Tod ihn erlöste…
War es die Strafe Gottes für den Aufstand der Israeliten gegen Moses? War es die verdiente Folge ihrer Rebellion gegen Gott? Oder war es purer Zufall, dass ausgerechnet hier in der Wüste die Plage das Volk Israel traf wie vorher die Ägypter getroffen wurden von Heuschrecken, Fröschen, Finsternis und dem Engel des Todes, der alle Erstgeborenen tötete?
Was also war der Sinn hinter diesem hundertfachen Sterben? Waren die Schlangen des Werkzeug der Rache Gottes, das Instrument, mit dem er unbarmherzig und eifersüchtig seine untreuen Bundesgenossen züchtigte? Hatte Gott die Israeliten, sein auserwähltes Volk, aus Ägypten geführt, um sie hier in der Wüste sterben zu lassen? Hatte er ihnen nicht seinen Segen versprochen, seine Liebe, ein besseres Leben?
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Viele Jahre waren die beiden verheiratet. Es war so, wie sie es sich immer erträumt hatte, zuerst die Hochzeit in der Kirche, das weiße Kleid, die vielen Freunde, die ausgelassen tanzten… Dann die Hochzeitsreise, später das erste und das zweite Kind, ein Haus mit Garten, Geburtstagsfeste, Reisen… Jahre voller Glück. Aber dann kamen sie auch hier aus allen Verstecken, die giftigen Schlangen… Gab es Grund für Eifersucht? Warum erzählte er nichts von dem, was er auf seiner Dienstreise erlebt hatte? Warum wurde er rot im Gesicht, wenn er über seine junge Kollegin sprach? Warum blieb er immer öfter abends lange weg? Was stellte sich da zwischen sie?
Sie redeten nicht darüber, aber sie spürten beide diese Veränderung. Sie stellte keine Fragen, trotzdem gab es immer öfter Streit. Es war wie ein Schlangenbiss, der ihre Ehe vergiftete. Misstrauen legte sich über die Liebe und ließ die Tage grau und fade werden. Auch sie wurde einsilbiger, in ihrer Traurigkeit ließ sie ihrer Phantasie freie Bahn, ihre Träume lernten fliegen, aber ihr Mann kam immer seltener darin vor.
Und während beide im Bett liegen – inzwischen schon in getrennten Zimmern – fragen sie sich: Was ist nur geschehen? Welche Fehler haben wir gemacht? Will Gott uns bestrafen? War er es nicht, unter dessen Segen wir gesagt haben „Ja, ich will!“? Hatte der Pfarrer nicht bei der Hochzeit gesagt: „So sprach Gott, der die Welt erschuf: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, darum sollen Mann und Frau einander ergänzen, sich gegenseitig lieben und ehren, einander achten und sich treu sein, solange sie leben…!“? Was ist der Sinn? Warum liegt Ihre Liebe im Sterben?
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Eigentlich war er kerngesund. Seinen Arzt sah er alle zwei Jahre zu einem Vorsorge-Check-Up. Das Übliche eben, Blutdruck messen, Ultraschall, Lungenvolumen, alles tipptopp. Der Zahnarzt lobte ihn für seine vorbildhafte Mundhygiene, eine Brille hat er nie gebraucht, höchstens im Sommer die coole Rayban mit den verspiegelten Gläsern, die ihn unwiderstehlich machte.
Da kam es wie ein Schock, als im Ultraschallbild jener kleine Knoten auftauchte, ein grauer Fleck an seiner Prostata, für den der Arzt schnell einen Namen fand: Krebs. Ein bösartiger Tumor, gerade noch rechtzeitig erkannt, behandelbar mit Chemotherapie und Bestrahlung, aber es würde eine harte Zeit werden.
Wie ein Schlangenbiss vergiftete die Angst jetzt sein Leben, jede Spritze war der Anfang neuer Qual, jede Bestrahlung nahm ihm für Wochen alle Kraft. Nichts war mehr so wie vor der Diagnose. Und regelmäßig stellte er sich die Frage: Warum ich? Warum jetzt? Und welchen Sinn hat das überhaupt… Will Gott mich bestrafen? Will er meinen Glauben testen? Was soll das alles?!
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So gern würden wir verstehen, was Gott tut, was er uns zumutet. Wenn Krankheit uns befällt, wenn geliebte Menschen sterben, wenn eine Ehe zerbricht oder eine Naturkatastrophe das Leben für immer verändert, dann suchen wir einen Sinn, einen Grund, einen göttlichen Plan hinter all dem Leid. Wir wollen hinter den Schmerzen einen Sinn erkennen, denn dann würde uns unsere Not weniger beliebig, weniger zufällig erscheinen. Wenn es einen guten Grund hinter dem allen gäbe – und sei es nur der, dass Gott uns prüfen oder strafen will – dann wäre der Schmerz leichter zu ertragen.
In der Bibel finden wir oft ähnliche Begründungen für das menschliche Leid: Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben, weil sie von der verbotenen Frucht gegessen haben, die Sintflut kommt über die Erde, weil die ganze Menschheit sich von ihrem Schöpfer abgewendet hat, Hunger, Krieg und Tod kommt über Israel, weil sie den Bund mit Gott immer wieder gebrochen haben…
Aber was, wenn Gott gar nicht so ist? Wenn er nicht kleinlich auf das Einhalten jeder religiösen Vorschrift besteht, wenn er aus Liebe zu den Menschen vieles erträgt, immer wieder vergibt und den gebrochenen Bund jedes Mal wieder neu unterschreibt?
Vielleicht ist nicht er es, der die giftigen Schlangen in den Weg der Israeliten gesandt hat, vielleicht ist das langsame Sterben der Liebe nicht eine Strafe Gottes für Ehebruch und Sprachlosigkeit in einer „Beziehung“, vielleicht ist die Krankheit nicht die gerechte Folge eines Lebens, das nach Gott nicht fragt?
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Ich glaube nicht, dass Gott aus Zorn und Rache zuschlägt wie ein blindes Schicksal. Ich glaube nicht, dass Gott Unheil über die Menschen bringt, um sie zu bestrafen. Gott will nicht Leiden und Tod, er will das Leben. Er will, dass seine Liebe in uns Menschen zum Ziel kommt und ihre Erfüllung findet.
Er lässt aber den Menschen die Freiheit, ihren eigenen Weg zu gehen, ihren eigenen Willen durchzusetzen und auch gegen sein Gebot zu handeln. Dann aber muss der Mensch mit den Folgen seines Tuns leben. Er muss leben mit der Ungerechtigkeit, mit den Folgen des Klimawandels, mit den Kriegen, die er selbst heraufbeschworen…
Die Welt ist kein Spielplatz, keine virtuelle Realität, in der man nach Lust und Laune experimentieren könnte. Was hier entschieden wird, hat Folgen. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wer zur Waffe greift, wird Blut vergießen. Wer ungerecht handelt, macht sich Feinde. Wer die Realität nicht wahrhaben will, wird sich in seinen Irrtümern verlieren.
Gott schafft nicht das Unheil und straft nicht mit Katastrophen, aber er lässt zu, dass die Folgen unserer Taten uns treffen. Und das kann sehr weh tun.
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Gott richtet ein Heilszeichen auf für die Israeliten auf dem Weg durch die Wüste. Gerade die Schlange, die so viel Unheil über die Menschen brachte, wird zum Symbol der Heilung. Schaut auf die Schlange und glaubt, dass Gott euch helfen will, so werdet ihr geheilt!
Es ist eine seltsame Verbindung, die hier geknüpft wird, wo als ob Gott sagen wollte: Stellt euch der Wahrheit, verdrängt nicht euer Problem, macht euch nichts vor! Die giftigen Schlangen in eurem Leben sind wirklich, die Bedrohung ist real, ihr seid in Gefahr! Da hilft es nicht, die Augen zu schließen und die Not klein zu reden; es ist nicht gut, so zu tun, als wäre da kein Problem, das es zu lösen gilt.
Wer seine Augen erhebt und auf die Schlange aus Erz schaut, die Moses aufgerichtet hat, der findet Hilfe, Trost und Heilung.
Die Schlange wurde zum Symbol der Medizin, zum Zeichen der Mediziner, der Ärzte und Apotheker. Das Symbol für Lüge und Betrug wurde zum Zeichen des Lebens. Und der Stab, den Moses aufrichtete, wurde in der christlichen Bildsprache verbunden mit dem Kreuz, an dem Jesus durch seinen Tod allen Glaubenden das Leben wiederbrachte.
Wer auf das Kreuz Jesu sieht, sieht dort, wie weit die Liebe Gottes zu gehen bereit ist.
Das Kreuz ist das Zeichen der Barmherzigkeit und der Gnade Gottes geworden. Unter dem Kreuz finden wir Vergebung. Hier wird mein Gewissen beruhigt. Hier findest Du Trost. Ja, es stimmt, die giftigen Schlangen sind immer noch da, auch für glaubende Menschen ist das Leben kein Spielplatz. Aber wer im Bewusstsein seiner Schuld und seiner Bedürftigkeit auf Jesus vertraut, an die Liebe Gottes glaubt, der wird leben. In Zeit und Ewigkeit.
Amen.